Kritik zu Manchester by the Sea
Und das Leben geht weiter: In Kenneth Lonergans drittem Film muss Casey Affleck sich als seelisch zerrütteter Eigenbrötler einer unerwarteten Verantwortung stellen – und liefert als Schauspieler sein oscarverdächtiges Meisterstück ab
Zu Beginn von »Manchester by the Sea« sehen wir zwei Männer und einen Jungen auf einem kleinen Fischerboot: Lee (Casey Affleck), sein älterer Bruder Joe (Kyle Chandler) und dessen Sohn Patrick schippern vor der Küste Neu-Englands umher. Die Stimmung ist ausgelassen, Lee rauft mit seinem Neffen, zeigt ihm, wie man angelt, und warnt ihn vor den Haien, die unter der Wasseroberfläche lauern. Die Szenerie ist fast zu idyllisch, um wahr zu sein. Aber schon in der nächsten Szene wird die Unbeschwertheit als trügerisch entlarvt, als so wacklig wie ein Boot auf hoher See: Zurück zu Hause finden die drei Joes alkoholsüchtige Frau (Gretchen Mol) in desolatem Zustand.
Solche Wechsel zwischen Freude und Tristesse ziehen sich als dramaturgisches Stilmittel durch den ganzen Film, fast unmerklich und nie als plakativer Kontrast. Die Binsenweisheit, dass Glück und Tragik im Leben stets nah beieinanderliegen, wird in »Manchester by the Sea« mit selten gesehener Wahrhaftigkeit gefüllt. Und wenn man so will, sind die Haie, vor denen Lee den kleinen Patrick warnte, die Tragödien des Lebens, die immer dann lauern, wenn man nicht mit ihnen rechnet.
Auch Lees Existenz wurde von einer niederschmetternden Tragödie aus den Angeln gerissen. Seither bestreitet er in Boston ein Dasein als Hausmeister. Einem urbanen Eremiten gleich haust er einem spärlich möblierten Kellerapartment. Seine Arbeit verrichtet er mit autistisch anmutendem Desinteresse an jeglicher sozialen Interaktion. Lee »funktioniert«, aber er lebt nicht. Casey Afflecks Verkörperung dieses Charakters ist ein Bravourstück in resolutem Understatement. Mit einem vielsagenden Minimalismus gelingt es ihm, einem zunächst unsympathischen Charakter ein Geheimnis zu geben – man spürt, dass Lees Stumpfheit Ausdruck einer tiefen Traurigkeit ist. Wenn man schließlich die Ursache dafür erfährt, wirkt sein emotionales Exil nur zu gut nachvollziehbar.
Ausgerechnet durch ein neuerliches Unglück wird er schließlich aus seiner Isolation gerissen: Sein Bruder Joe ist gestorben. Zurück in seiner Heimatstadt Manchester, New Hampshire, erfährt Lee, dass Joe ihn zum Vormund des inzwischen 16-jährigen Patrick (Lucas Hedges) bestimmt hat. In Rückblenden sehen wir, dass Lee selbst einmal eine wunderbare Frau und drei Kinder hatte. Auch deshalb wirkt das Vermächtnis seines Bruders nun wie eine unüberwindbare Herausforderung. Für Lee ist das Leben zum Stillstand gekommen. In Kontrast dazu steht der Teenager Patrick. In ihm zeigt sich, dass das Leben auch angesichts noch so tragischer Geschehnisse weiterläuft – und weiterlaufen muss: Der gut aussehende Schüler hat eine Band, zwei Freundinnen und keine Lust, aus Manchester wegzuziehen. Vor allem in den Szenen zwischen Onkel und Neffe entwickelt der Film eine erstaunliche, teils fast screwballhafte Komik. Auch dies ist ein kluger Kniff, denn der Humor lässt die tragischen Momente umso erschütternder wirken; umgekehrt macht die grundlegende Traurigkeit das Lachen umso befreiender. Diese nicht einfache Gratwanderung funktioniert prächtig, dank Lonergans bemerkenswertem Gefühl für ungekünstelte Natürlichkeit. Nichts wirkt aufgesetzt oder manieristisch. Mit feinem Instinkt für alltägliche Details gibt Lonergan seiner Erzählung eine lyrische Atmosphäre »gelebten Lebens« und erzeugt ein Gefühl für die Charaktere und für die Orte, an denen sie leben. Ganz allmählich lässt er uns verstehen, wie die Welt für Lee in Manchester einst aussah und was sich in den Jahren seit seinem Weggang veränderte. Er hat mehrere bewegende Begegnungen, nicht zuletzt mit seiner Exfrau (hervorragend: Michelle Williams), die in schwächeren Filmen zu einer Art »Karthasis« führen würden. Nicht so hier. Die Einsicht, dass es seelische Schmerzen gibt, die auch nach Jahren nicht vergehen, und Dinge, die man sich niemals vergibt, gehört zu den vielen intelligenten Zügen dieses Films. Am Ende fahren Lee und Patrick wieder aufs Meer. Die alte Geschichte mit den Haien ist nur noch eine Anekdote. Es heißt nicht, dass sie nicht mehr da sind.
Kommentare
Manchester by the Sea
Ein Winterfilm, der einem das Herz gefrieren lässt. Ein äußerst komplexes Gesellschafts- und Verwandtschaftsbild, das nur Raum hat für Depression. Der Fokus dreht sich um den Hausmeister Lee (Oscar für Casey Affleck) und seinen Neffen Patrick (Lucas Hedges). Als Lees Bruder stirbt übernimmt er die Vormundschaft über seinen minderjährigen Neffen. Damit wird eine gesellschaftliche Lawine losgetreten, durch die das ganze soziale Umfeld (Ex-Frauen, Onkel, Brüder, Nachbarn etc. in Mitleidenschaft gezogen werden. Es gibt lokale Veränderungen, (Filmtitel ist Lees Heimatort) andere Wohnverhältnisse bilden sich, neue Verantwortlichkeiten entstehen.
Aus der gut gecasteten Darstellerriege ragt Michelle Williams als Lees Ex Randi besonders heraus. Sie verkörpert eigentlich zwei Aspekte ihrer Persönlichkeit: erst vertreibt sie Lees Saufkumpanen aus ihrem Haus. Hier staucht sie sie in echter Proll Masche zusammen. Später als sie ein klärendes Gespräch mit ihrem Ex versucht, kämpft sie mit den Tränen und kommt als übersensible Frau daher. Der prall gefüllte Plot enthält Scheidung, Vormundschaft und Albträume. Alles vergraben unter dem Geheimnis, das eigentlich alle kennen, dem Alkoholismus. Aber nicht nur der bewirkt die Kommunikationsunfähigkeit der Akteure. Die abwärts gerichtete Depressionsspirale wird angetrieben durch Aggression und Verachtung, Streitgespräche werden mit Sarkasmus oder Lug und Trug betrieben. Nachdem sich Stiefsohn und Vormund gründlich an einander abgearbeitet haben, gehen sie gemeinsam angeln. Das besiegelt keinen Friedensvertrag, sondern verdeutlicht nur den Status Quo nach Bewusstseinserweiterung, den wir gerne teilen.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns