Kritik zu Lucky

© Alamode Film

Harry Dean Stanton starb im Herbst 2017 im Alter von 91 Jahren; so wurde sein Auftritt im Regiedebüt des Schauspielers John Carrol Lynch zu seiner letzten Rolle. Die Titelfigur ist ihm in mehr als einer Hinsicht auf den Leib geschrieben und damit zum speziellen Vermächtnis an den Kinozuschauer geworden

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Bevor Lucky das Haus verlässt, macht er seine Morgenroutine, zu der neben der Tasse Kaffee auch einige Liegestütze zählen – nicht schlecht für einen Neunzigjährigen. Überlagert wird der Eindruck von den ersten Bildern, die den nackten, faltigen Oberkörper eines alten Mannes vor dem Spiegel zeigen. So etwas ist der Kinogänger wahrhaftig nicht gewohnt, zumindest nicht aus amerikanischen Filmen. Fast fühlt man sich wie in einem Cronenberg-Film, es ist jedenfalls ähnlich schockierend oder schockierender, weil man davon ausgehen kann, dass es sich nicht um Spezial­effekte handelt, sondern dass dieser Körper des neunzigjährigen Protagonisten eins ist mit dem des zur Drehzeit neunundachtzigjährigen Schauspielers Harry Dean Stanton.

»Harry Dean is LUCKY« steht im Vorspann des Films. Das bedeutet in diesem Fall mehr als dass der Schauspieler hier eine Figur namens Lucky verkörpert: Die Rolle ist Stanton auf den Leib geschrieben, sie wurde für ihn (und aus ihm) entwickelt; der Schauspieler und Produzent Logan Sparks, einer der beiden Drehbuchautoren, war lange Jahre befreundet mit Stanton, einem der großen Nebendarsteller des amerikanischen Kinos, mit denkwürdigen Auftritten unter anderem in John Carpenters »Die Klapperschlange«, Ridley Scotts »Alien«, Arthur Penns »Duell am Missouri« und Robert Altmans »Fool for Love«. Seine besten Jahre vor der Kamera hatte er zu den Zeiten von New Hollywood, als aus Nebendarstellern wie Gene Hackman plötzlich Stars wurden und besagten »character actors« größere Parts anvertraut wurden. Mit der Hauptrolle in Wim Wenders' »Paris, Texas« erreichte Stanton dann 1984 ein ganz anderes Publikum. An das Kino des New Hollywood erinnert »Lucky« im besten Sinne, sein Plot ist minimal, im Vordergrund stehen die Figuren und ihre Eigenheiten. Auch als Lucky eines Tages erfahren muss, dass sein Körper ihm nicht mehr gehorcht, setzt das keinen großen Aufbruch in Gang, er wird weiterhin seine Zigaretten rauchen und sich seine Unabhängigkeit bewahren, es auch schon mal darauf anlegen, mit seinem Tun andere Einwohner der Kleinstadt in Arizona gegen sich aufzubringen – etwa, wenn er sich trotz Rauchverbot in der Bar eine Zigarette anzündet. Er gehört dazu und gefällt sich doch in seinem Status als rebellischer Außenseiter und Einzelgänger, der seine Marotten pflegt, Kreuzworträtsel löst und im Fern­sehen Gameshows verfolgt.

Zu Luckys Freunden gehört auch Howard, den er an der Theke trifft und der seiner vermissten Schildkröte »Mr. Roosevelt« nachtrauert, der er gleichwohl sein gesamtes Erbe vermachen will. Howard wird gespielt von David Lynch, in dessen Filmen Stanton wiederholt mitgewirkt hat (zuletzt in fünf Folgen der neuen Staffel von »Twin Peaks«). Dem Zuschauer vermittelt das das Gefühl, Stanton sei hier unter Freunden.

»Lucky« ist das späte Regiedebüt des Schauspielers John Carroll Lynch (keine Verwandtschaft mit David Lynch), der seinen Durchbruch 1996 mit der Rolle von Frances McDormands Ehemann in »Fargo« hatte. Seine mehr als zwanzigjährige Erfahrung vor der Kamera merkt man »Lucky« auf angenehmste Weise an, wenn er den Schauspielern (nicht nur Harry Dean Stanton) Raum zur Entfaltung gibt.

Harry Dean Stanton ist am 15. September vergangenen Jahres im Alter von 91 Jahren verstorben, nach einem arbeitsreichen Leben (die IMDb listet 202 Auftritte seit seinem Debüt 1954 auf), das macht den Film umso berührender, zumal jenen Moment, wenn er bei einer mexikanischen Hochzeit plötzlich die Anwesenden mit seiner A-cappella-Version des spanischen »Volver, Volver« überrascht. Nicht so überraschend für den, der seine Filme kennt und weiß, dass er – nicht nur in dem schönen Dokumentarfilm »Partly Fiction« (2012) – schon öfter auf der Leinwand Proben seines Gesangstalents gegeben hat, zum Beispiel 1967 in dem Paul-Newman-Film »Cool Hand Luke«. Dort sang er »There ain't no grave gonna hold my body down«. Auf der Leinwand jedenfalls wird er weiterleben.

Meinung zum Thema

Kommentare

evangelisch.de hat mich - einen notorisch Nichtkinohaenger - auf den Film aufmerksam und neugierig gemacht. Ich schlug ihn gleich der Familienrunde vor. Er nahm uns mit. Mit ihn eine Lebenssituation - auf das Ende hin. Er ist echt, stimmig, ja in gewisser Weise authentisch. Harry Dean Stanton in seiner letzten Rolle: er spielte sein Leben. Es war kein Spiel.

Ein eindrückliches Leben wird gezeigt - mit
wenig aber ausgewählten Worten.
Z.B. Schlimmer als das Schweigen ist der Small Talk.

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