Kritik zu Lost in Face
Prosopagnosie ist eine Störung des Wahrnehmungssinns. Valentin Riedl porträtiert die Malerin Carlotta und ihre Weltsicht, die ohne das Wiedererkennen von Gesichtern auskommen muss
Das Buch »Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte« avancierte 1985 überraschend zum Weltbestseller. Oliver Sacks stellt darin unter anderem die Fallgeschichte eines Musikprofessors vor, der die Gesichter anderer Menschen – und auch sein eigenes – nicht erkennen konnte. Daraufhin erhielt der Neurologe enorm viele Zuschriften von Menschen, die bei sich selbst oder Angehörigen ein ähnliches Defizit beobachteten.
Heute weiß man, dass etwa zwei Prozent der Weltbevölkerung diese seltsame Wahrnehmungsstörung haben. Solche Menschen sind keineswegs so hilflos, wie man angesichts einer Störung dieses basalen Gesichtssinnes annehmen sollte. Im Gegenteil. Unter ihnen befinden sich Hochbegabte und Wissenschaftler wie Jane Goodall und Oliver Sacks selbst. Auch der bekannte Maler Chuck Close sowie Prominente wie Victoria von Schweden und Hollywoodstar Brad Pitt sind gesichtsblind.
Erstmals beschrieben hat dieses Krankheitsbild der deutsche Psychiater Joachim Bodamer, der diese Störung 1947 als Prosopagnosie bezeichnete. Mit solchen Hintergrundinformationen hält der Neurologe Valentin Riedl sich zurück. Sein Film, eine Langfassung von »Carlottas Face« von 2018, taucht stattdessen tief ein in die subjektive Erlebnisweise der gleichnamigen Malerin. Mit ihrer audiovisuellen Kunst, deren Vielfalt sukzessive vorgestellt wird, kompensiert die hexenhaft anmutende Frau ein schwer vorstellbares Defizit. Beim Blick in den Spiegel sagt Carlotta: »Die Frau trägt mein Nachthemd. Also muss ich es sein«.
Schon in der Schule erkannte sie ihre Mitschüler nicht. Oft saß sie deshalb in der falschen Klasse. Lehrer hielten sie für schwachsinnig. Und so wuchs die hochintelligente Frau in einer eigenen Welt auf. Um Menschen aus dem Weg zu gehen, behütete sie Pferde, jobbte als Betonmischer-Fahrerin oder Filmvorführerin. Am liebsten mag sie Science-Fiction-Filme mit Darth Vader. Den erkennt sie am Schnaufen. So versteht sie wenigstens die Handlung.
Atmosphärische Aufnahmen zeigen, wie Carlotta bei Kerzenschein malt. Wieder und wieder versucht sie sich am Selbstporträt. Eine Anstrengung, die für sie so kompliziert ist wie eine Gleichung mit etlichen Unbekannten. Behutsam dekliniert der Film durch, wie sich eine Welt anfühlt, in der die für uns so selbstverständliche Wahrnehmung von Schönheit oder Hässlichkeit eines Gesichts keine Rolle spielen. Carlotta erkennt andere Menschen nur an »ihrer individuellen Geräuschfahne«. Also am Räuspern, Atmen oder am Gang. Reizvolle Cartoons lassen erahnen, wie eine Welt aussieht, in der Gesichter abstrakt wie kubistische Gemälde von Picasso aussehen. Bei diesen Erkundungen setzt der Filmemacher sich selbst mit in Szene. Was sich oft wie eine entbehrliche Selbstbespiegelung anfühlt, hat hier eine dramaturgisch sinnvolle Funktion.
»Lost in Face« vermittelt einen fremdartigen Blick auf eine Fähigkeit, die so selbstverständlich erscheint, dass wir normalerweise kaum einen Gedanken an sie verschwenden.
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