Kritik zu Le premier venu
Wer schon lange auf einen neuen Doillon gewartet hat, kann sich freuen. Der Altmeister ist ganz in seinem Element und feilt weiter an seiner komplizierten Geometrie der Gefühle
Jacques Doillon, lange exzentrischer Außenseiter des französischen Kinos, braucht mit seinen psychologischen Kammerspielen unter freiem Himmel weder den Vergleich mit Ingmar Bergman noch mit Eric Rohmer zu scheuen. Doillon galt Anfang der 70er Jahre als Begründer der sogenannten »neuen Natürlichkeit«. Authentisch, spontan wirken seine Filme auch heute noch.
»Le premier venu« ist der Erstbeste, der einer jungen Pariserin über den Weg gelaufen sein muss, fortan ist sie hinter ihm her. Der Film schaltet sich mitten in die Verfolgung ein, nimmt sich Zeit, um seine Dreierkonstellation – eine Frau zwischen zwei Männern – zu entwickeln. Auch der Zuschauer braucht seine Zeit, um dem gewieften, vielleicht sogar intriganten Spiel dieser Camille (Clémentine Beaugrand) auf die Schliche zu kommen. Die junge Frau um die zwanzig, offenbar aus besserem Hause, sucht sich ausgerechnet diesen dahergelaufenen Costa (Gérald Thomassin), einen Niemand mit Narbengesicht, einen ewigen Loser, als Liebhaber aus. Da ist von einer Vergewaltigung die Rede, umso weniger versteht man ihre Anhänglichkeit, die bald von einer aufdringlichen Fürsorge – für Costa, für seine Ex, für seine kleine Tochter, die er seit drei Jahren nicht gesehen hat – abgelöst wird.
Noch komischer wird das Ganze, als sich ein Polizist (Guillaume Saurrel) hinzugesellt, der wiederum Camille nachstellt und sich als ein Jugendfreund von Costa herausstellt.
Doillon dreht am Rad der Gefühle, treibt es ins Extrem. Camille ist der Dreh- und Angelpunkt, die interessanteste Figur in ihrer leicht gebückten nachdenklichen Haltung, die auch Unsicherheit zu signalisieren scheint, aber sie ist es schließlich, die diesen jungen Mann wieder ins rechte Fahrwasser bringen will, die alles riskiert, sogar in eine kriminelle Handlung verwickelt wird. Doch fragt man sich: Was ist Doillons Interesse an dieser Geschichte, dieser Konstellation? Warum stellt er diese Camille als große Unbekannte dar, die sich an den Nächstbesten verschwendet, eine Amour fou eingeht, die sowieso dem Untergang geweiht ist? Monster oder Heilige?
Alles dreht sich, alles bewegt sich. Die Kamera vollführt ihren Reigen zu den Worteskapaden der Darsteller. Doillon ist ein Spieler. Er würfelt seine Figuren zusammen, riskiert dabei die Eskalation – wenn plötzlich eine Waffe ins Spiel kommt –, alles ist so wirklichkeitsnah, dass es kaum zu glauben ist. Das pralle Leben in seiner ganzen Unvorhersagbarkeit, aber eben doch ausgedacht.
Dahinter eine Moral oder ein Lehrstück zu vermuten, wäre verfehlt. »Ballett der Gefühle« wäre der passende Titel für die vier Tage dauernde Versuchsanordnung, die, wie fast immer bei Doillon, die geschlossene Erzählform verweigert. Die Kamera ist das fühlbare Auge des Regisseurs. Sie registriert jede Regung, und sie öffnet den Erzählraum für die Weite und Helligkeit der winterlichen Küstenlandschaft. Rohmers Winter war eine Geschichte voller Wunder, Doillons »Winter« ist eine raue, eher dunkle Version aus der heutigen orientierungslosen, von Arbeitslosigkeit und Unzufriedenheit geprägten Zeit. Vielleicht gehören sie doch zusammen
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