Kritik zu La chimera
Nach »Land der Wunder« und »Glücklich wie Lazzaro« komplettiert Alice Rohrwacher ihre Trilogie über das ländliche Italien mit einer poetisch-skurrilen Ballade über einen Grabräuber mit einer besonderen Gabe und gebrochenem Herzen
Er ist einem nicht unbedingt sofort sympathisch: Arthur sieht trotz seines hübschen Gesichts und seines weißen Anzugs ganz schön fertig und finster aus. Als ein mobiler Sockenverkäufer ihn im Zug wegen seines unguten Geruchs aufzieht, wird er gleich handgreiflich – was die drei Mädchen, die eben noch mit ihm geflirtet haben, in Angst und Schrecken versetzt. Nach und nach erfahren wir dann, dass er gerade aus dem Knast entlassen wurde und von Beruf Grabräuber ist. Er hat ein besonderes Talent: Etruskische Grabkammern spürt er mittels einer Wünschelrute auf; Schwindel und Übelkeit sind bei ihm die unfehlbaren Anzeichen eines Fundes. Was ihn aber viel mehr umtreibt, ist die Sehnsucht nach seiner verlorenen Geliebten Benjamina, die ihm in seinen Träumen erscheint.
So wie dieser melancholisch-abweisende Typ erst nach und nach sympathisch wird, so erschließen sich viele Fakten und Zusammenhänge in Alice Rohrwachers »La chimera« erst nach und nach und eher beiläufig. Am Anfang steht hier meist ein Wundern, etwa über den mobilen Sockenverkäufer im Zug oder den Schaffner, der mit qualmender Kippe im Mund die Fahrkarten kontrolliert – wir sind im ländlichen Italien der 1980er.
Arthur jedenfalls gerät wieder in die schlechte Gesellschaft, die ihn in den Knast gebracht hat. Mit der bunten Grabräuberbande geht er auf neue Raubzüge und kommt nebenbei einer jungen Frau namens Italia näher, scheint aber seinen Verlust nicht hinter sich lassen zu können. Bis die Räuber unterhalb eines Wärmekraftwerks auf eine besondere Kammer stoßen: kein Grab, sondern ein Heiligtum mit der Statue einer etruskischen Göttin – ein Fund, der Folgen hat, für die Räuberbande wie auch für die Seele Arthurs.
Die Städtchen und Landschaften des Latiums und der südlichen Toskana fängt Kamerafrau Hélène Louvart in wunderbaren Bildern mit kräftigen Farben und schmeichelndem Licht ein, und in drei verschiedenen, analogen Formaten: 35 mm, 16 mm und Super 16 – selten ist in den vergangenen Jahren die Körnigkeit analogen Materials so sinnlich eingesetzt worden wie hier. Und wie schon in »Land der Wunder« und »Glücklich wie Lazzaro« lässt Alice Rohrwacher die Übergänge zwischen Wachsein und Traum, Realismus und Märchen zerfließen, hier sogar die Grenze zwischen Leben und Tod. Wie ein moderner Orpheus bewegt sich Arthur durch bukolische Szenerien und die Unterwelt der etruskischen Gräber. Durch seine Träume zieht Benjamina dabei einen roten Ariadnefaden, dem er folgt, um sie wiederzufinden. »La chimera« ist voller Anspielungen auf Mythen und Legenden und die geheimnisvollen Etrusker, die in einem Dialog als Gegenpol zu den rationalen, machohaften Römern gesetzt werden. Keine Frage, wem die Sympathie gehört.
Josh O'Connor, der in »The Crown« Prinz Charles verkörperte, bietet als Arthur eine nuanciert zerknitterte Vorstellung, neben ihm hat Isabella Rossellini eine schöne kleine Rolle als alternde Opernsängerin. Besonders gelungen ist die Besetzung der Räuberbande mit lauter ausgeprägten Charakterköpfen. Zu dieser illustren Gesellschaft passt dann auch der Bänkelsänger, der wie zufällig in einem Strandlokal eine Ballade über ebenjene Bande und den melancholischen Arthur zum Besten gibt.
Bis Arthur schließlich am Scheideweg zwischen Leben und Tod anlangt, bleiben viele Aspekte des Films rätselhaft. Das wirkt nur gelegentlich ein wenig gewollt, meist ist es charmant und vieldeutig gestaltet, manchmal schlicht bezaubernd. Der skurrile Humor, der sich freilich nie in den Vordergrund spielt, trägt viel zur eigensinnigen Poesie des Films bei. »La chimera« ist wie die antike Chimäre ein schwer greifbares, faszinierendes Mischwesen. Melancholie und Burleske, Antike und Moderne, sogar Monteverdi und Kraftwerk – hier passt vieles zusammen, was sonst nicht zusammengehört.
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