Kritik zu Kinder. Wie die Zeit vergeht.
In seinem mittlerweile dritten Film über Menschen und Orte in Sachsen-Anhalt dokumentiert Thomas Heise lakonisch und präzise familiäre und gesellschaftliche Missstände. Im Mittelpunkt: Tommy, der seit »Neustadt« zum Teenager herangewachsen ist
»Schade drum.« Jeanette präsentiert gerade Bilder ihrer Kinder. Paul ist damals drei, ein ganz Lieber, wie die Mutter sagt, den krieg ich noch hin. Und dann ist da noch Tommy. »Das ist ein ganz Frecher, der hat vor niemandem Respekt.« Jeanette schaut lange auf das Bild von ihrem Ältesten, bevor sie den Blick hebt. »Schade drum.« Tommy ist damals acht Jahre alt.
Dass Thomas Heise die Archivaufnahmen aus »Neustadt« (2000) in »Kinder. Wie die Zeit vergeht.« wiederholt, zeigt, dass es solche kleinen Gesten der Auf- und Preisgabe sind, die seine mittlerweile zur Trilogie herangereifte Langzeitbeobachtung des Lebens im sachsenanhaltischen Halle-Neustadt im Innersten zusammenhalten. Dabei hat sich sein Fokus immer weiter von den aufgegebenen Jugendlichen zu den desolaten gesellschaftlichen Hintergründen verschoben, vor denen sie sich bewegen. War »Stau« (1992) das genaue Porträt einer Gruppe junger Neonazis, die vor der Kamera viel Raum für Selbsterklärungen hatten, richtete Heise in »Neustadt« (2000) sein Interesse zunehmend auf die spezifischen familiären Verhältnisse der Familie von Jeanette, die als einziges Mädchen unter vier Brüdern aufwuchs und mit 15 schwanger wurde.
»Kinder. Wie die Zeit vergeht.« erzählt die Familiengeschichte fort, indem er sich auf den mittlerweile 15-jährigen Tommy konzentriert, und zugleich weitet er den Blick auf den konkreten Ort, von dem er handelt. Der Film beginnt mit einer langen Kamerafahrt entlang eines menschenleeren Raffineriegeländes, das in der Dämmerung kalt, fern und schön wie eine Mondbasis leuchtet. In dem in Schwarz- Weiß gedrehten Film finden sich viele solcher Einstellungen von städtischen Brachen, Wohnsilos, Abrissarealen und Industrieanlagen, die die Region zugleich ästhetisieren und als unbewohnbaren Ort zeigen.
Vor diesem unheimlichen Hintergrund treten die Konturen der gesellschaftlichen Verhältnisse umso deutlicher hervor; ohne anbiedernde Erklärungsmuster entsteht das Panorama einer abgekoppelten Welt, deren Schicksal vor allem die Jugendlichen teilen. Tommy ist gerade in eine Schule für Schwererziehbare gekommen, »seine letzte Chance«, wie die Erwachsenen unentwegt beteuern. Sein bester Freund ist ein 23-jähriger Rechtsradikaler, der Bruce Lee über dem Bett hängen hat, es für falsch hält, die Menschen unterschiedlicher Länder miteinander zu vermischen, und beim Italiener Pasta futtert.
Thomas Heise bietet viele solcher ganz unaufdringlicher Momente, in denen die Blindheit einzelner Protagonisten sichtbar wird. Vor allem schockiert die Kurzsichtigkeit der Erwachsenen, die das Sinnvakuum, das die männlichen Heranwachsenden häufig mit rechtsradikalen Ideologien füllen, immer auch selbst mit produzieren. Seien es nun die Mütter, die ihre Söhne vernachlässigen, oder Lehrerinnen wie die von Tommys Bruder Paul, die bei der Zeugnisvergabe ein halbes Jahr vor Ende der Grundschulzeit wie eine Schicksalsgöttin durch die Klasse stapft: »Na, wo stecken wir dich denn hin?« Wieder ein paar Kids mehr, von denen es später heißt: Schade drum.
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