Kritik zu Kimi
Steven Soderberghs neuer, für den Streamingdienst HBO-Max produzierter Thriller, aktualisiert das alte Hitchcock-Thema vom vielleicht beobachteten Mord im Haus gegenüber
Steven Soderberghs »Kimi« strotzt vor Gegenwärtigkeit. Überall schrecklich bekannte Bilder: der CEO des High-Tech-Unternehmens Amydala Corporation, der zu Beginn der Presse aus dem Homeoffice zugeschaltet ist, trägt oben herum sein Business-Outfit, unten Schluffi-Look; zwischendurch immer wieder Menschen vor ihren Arbeitsstationen zu Hause, einer brüllt seine Kinder an, weil sie bei einem Meeting stören, ein anderer hat den Kühlschrank direkt in Greifnähe. »Your Life is simplified«, steht einmal auf einer Werbetafel: Haha! Corona ist überall, auch im Kino.
In dem knackigen 89-Minuten-Thriller ist die Pandemie das Hintergrundrauschen für eine filmhistorische Aktualisierung. »Kimi« stellt sich als eine Art Big-Data-Variante von Hitchcocks »Das Fenster zum Hof« heraus. War es damals der an den Rollstuhl gefesselte James Stewart, der meinte, gegenüber einen Mord beobachtet zu haben, hört hier die an ihre Wohnung gebundene, agoraphobische Heldin Angela (Zoë Kravitz) digital mit. Die junge Frau mit den blauen Haaren optimiert den Sprachassistenten Kimi der Amydala Corporation, indem sie alte Gespräche nachhört und, falls das Alexa-ähnliche Gerät etwas falsch verstanden hat, den Quellcode anpasst. Auf einer Aufnahme ist das Schreien einer Frau zu hören (ein Gewaltverbrechen?), was ihren Vorgesetzten herzlich wenig interessiert.
In Zeiten von Distanz und Entfremdung sind solche Sujets doppelt aufgeladen. Bei Netflix etwa läuft seit Mitte letzten Jahres »The Woman in the Window«, Joe Wrights halbgare Hommage an Hitchcocks Klassiker, und erst kürzlich ist dort »The Woman in the House Across the Street from the Girl in the Window« gestartet, in der die Motive zu einem schwarzhumorigen Meta-Psychothriller verwurschtelt werden.
Soderbergh macht aus dem naheliegenden, nicht wirklich überraschenden Stoff (Drehbuch: David Koepp) einen Film, der sich von Charakterstudie zu flirrendem Paranoia-Thriller hochschaukelt. Wir sind die erste Filmhälfte mit Angela in ihrem großzügigen Loft, blicken nach draußen auf die Fenster und folgen der auf Effizienz gebürsteten, von Kravitz eindringlich voll innerer Anspannung verkörperten Frau in Gefangenschaft. Der Zahnarzt muss, ebenso wie die Psychologin, via Videokonferenz diagnostizieren, gleich nach dem Sex mit dem Geliebten von gegenüber (Byron Bowers) wird das Bett neu bezogen.
Später hetzen wir mit ihr im Panikmodus durch Seattle. Die Beklemmung wird zur filmischen Form, die von Soderbergh selbst geführte Kamera geht in Schieflage, dreht sich, wackelt, begleitet von Cliff Martinez' vibrierendem Score, durch die von Masken gezeichnete Hochglanzurbanität. Angela drückt sich an Häuserwände und in U-Bahnen, um die Audioaufnahme zur vermeintlich hilfsbereiten Amydala-Mitarbeiterin zu bringen.
»Kimi« ist genrefilmisch zugespitzte Gegenwartestudie mit Popkulturfaktor, ein ästhetisch starker Big-Data-Thriller mit dünnem Plot. Was wiederum ganz gut zur auf Oberflächen gebürsteten Instagram-Gegenwart passt.
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