Kritik zu Julie bleibt still

© eksystent Filmverleih

Leonardo Van Dijl erzählt von einer jungen Profisportlerin, die um jeden Preis weiterkommen will – und deshalb verschweigt, was sie über den Fall einer  Vereinskollegin, die sich umgebracht hat, sagen könnte

Bewertung: 4
Leserbewertung
0
Noch keine Bewertungen vorhanden

Am Anfang Trockenübungen. Julie (Tessa Van den Broeck) rennt allein über den Tenniscourt und schlägt imaginäre Bälle, Vorhand, Rückhand, Volley. Ein Spiel gegen sich selbst, gegen einen unsichtbaren Gegner? Dieser streng kadrierte Auftakt von »Julie bleibt still«, dem Langfilmdebüt des belgischen Regisseurs und Drehbuchautors Leonardo Van Dijl, deutet an und kondensiert, woran sich das stille, vielschichtige Drama arbeitet.

Julie, mit einer zum Bersten intensiven Zurückhaltung von der Debütantin und Tennisspielerin Van den Broeck verkörpert, gilt als großes Nachwuchstalent des belgischen Tennisverbands. Tennis ist ihr Leben, sie pflegt zwar soziale Kontakte, lässt ihre Muskeln aber nur beim gelegentlichen Spaziergang mit dem geliebten Dackel wirklich entspannen. Als eine ebenfalls vielversprechende Vereinskollegin Suizid begeht und der gemeinsame Trainer Jérémy (Laurent Caron) wegen fragwürdiger Arbeitsmethoden suspendiert wird, gerät Julies Welt ins Wanken. Die Leitung des Tennisvereins leitet eine Untersuchung ein, bei der alle Spielerinnen aussagen sollen. Julie schweigt. 

Was ist passiert? Das ist der große Elefant im Raum des subtilen Dramas, das Premiere in der Semaine de la Critique beim Filmfestival in Cannes feierte. Van Dijl und Drehbuch-Co-Autorin Ruth Becquart erzählen zurückhaltend davon, wie die junge Tennisspielerin zwischen den Vorwürfen gegen den alten Trainer, zu dem sie Kontakt hält, dem Druck der aussagenden Vereinskollegen und der persönlichen Aufarbeitung eines möglichen übergriffigen Verhaltens gegen sich selbst versucht, ihre Profiambitionen weiterzuverfolgen. Sie will es in die »Junior Pro« des belgischen Tennisverbands BTF schaffen und muss sich vor einer Jury beweisen.

Im letzten Jahr hat Luca Guadagnino mit »Challengers – Rivalen« gezeigt, dass der Tennisplatz ein hervorragender auch metaphorisch aufgeladener Ort sein kann, um Geschlechter- und Machtverhältnisse zu diskutieren. Doch anders als Guadagnino, der einer sexuell aufgeladenen Verspieltheit frönte, zelebriert Van Dijl mit den körnigen 35-mm-Bildern von Kameramann Nicolas Karakatsanis und der punktuell eingesetzten stimmungsvollen Musik von Caroline Shaw eine strenge produktive Vagheit. Was geht in Julie vor, warum schweigt sie?

Einmal wird sie wütend, weil ihr neuer Trainer Backie (Pierre Gervais) sie beim Training ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt und sagt, sie solle allen ihren Aufschlag zeigen. Ein anderes Mal muss sie nicht, wie alle sonst bei Verspätungen, Strafliegestütze machen. In diesen kleinen Situationen materialisieren sich Fremdbestimmungen, die sich in die zwischenmenschlichen Dynamiken des niemals hierarchiefreien Trainingsraums einschreiben.

»Julie bleibt still« deutet an, dass Julie mehr widerfahren ist. Dass der Film den inneren Kampf seiner Heldin, ihr Abwägen zwischen einem In-sich-Hineinfressen und einer vielleicht auch folgenreichen Aussage zeigt, ohne ihn auszuerzählen, spricht für seine große Sensibilität.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt