Kritik zu Isadoras Kinder
Damien Manivel (»The Parc«, »Takara«) setzt der legendären Choreographin und Tänzerin Isadora Duncan ein eindrückliches Denkmal, indem er eines ihrer Tanzstücke drei sehr unterschiedliche weibliche Körper durchqueren lässt
Fünf Finger streifen tastend über ein Diagramm aus unterschiedlichsten grafischen Formen, während draußen an den großen Fenstern der Bibliothek ein Arbeiter seinen Wischer an einer langen Stange auf und ab bewegt. Dann klappt die junge Frau das Buch zu. »Isidora Duncan. The Dances« steht auf dem Cover. Und aus dem Off spricht eine Stimme in französischer Sprache: »An diesem Morgen stand ich plötzlich auf und tanzte. Es war der erste Tanz nach dem Unglücksfall«. Das sind Sätze aus der Autobiografie der legendären Tanzpionierin und Choreographin, die – vierzehn Jahre vor ihrem eigenen gewaltsamen Ende bei einer Autofahrt – als junge Frau durch den tragischen Tod ihrer beiden kleinen Kinder erschüttert wurde. Sie starben mit ihrem Kindermädchen, als der Familienwagen 1913 in Paris durch eine Unachtsamkeit des Chauffeurs in die Seine stürzte. Aus der Verarbeitung dieser Erfahrung von Verlust und Abschied schuf Duncan die Choreographie »La mère«, die heute nur durch Berichte und in der oben erwähnten sogenannten »Labanotation« überliefert ist.
Die Vermittlung und Weitergabe der Tanzfolge ist auch Grundlage dieses Films, der sie in drei Episoden durch vier sehr unterschiedliche Körper führt. Dabei geht der Bogen von der vorsichtigen Annäherung an Duncans Biographie bis zur aneigenden Rezeption. Stationen sind: Die Interpretation der Notate durch eine Solotänzerin. Die gemeinsame Erarbeitung einer öffentlich Aufführung durch eine junge Tänzerin mit Down-Syndrom und ihrer Choreografin. Und das Fortleben dieser Aufführung in Seele und Körper einer betagten und gehbehinderten Zuschauerin, die das auf der Bühne gesehene für das eigene Leben interpretiert, dessen mögliche Verluste angedeutet werden.
Zum Einsatz kommt dabei ein schwerer, aber äußerst präsize agierender Körper, der in der starken Interpretation von Ella Wolliaston gerade in dieser Gegensätzlichkeit rührt. Auch das auf und jenseits der Bühne ausgiebig von der Kamera begleiteten Agieren von Manon Carpentier und Agathe Bonitzer ist bei aller Beweglichkeit im Einzelnen deutliches Gegenprogramm zum gängigen Idealbild weiblicher Anmut. Das spiegelt Duncans tänzerisches Konzept, das sich dezidiert vom klassischen Ballet absetzt – und der scheinbaren Aufhebung der Schwerkraft in Sprüngen und Pirouetten Körper von echtem Gewicht entgegensetzt.
Manivels Inszenierung setzt statt auf distanzierte historische Auseinandersetzung mit Duncans Leben und Werk ganz auf diese Körperlichkeit und die von Aleksander Skrjabins Klavieretude unterstützten Emotionen von Trauer, Zärtlichkeit und Trost. Dialoge gibt es nur im mittleren Teil, der die Frage der Tradierung aus der Mutter-Kind-Dyade in die Kunst extrapoliert: Wie können ästhetische Ideen zwischen der Mentorin und ihrer Schülerin zirkulieren? Und wie soll diese, selbst noch fast Kind, dem Publikum mütterliche Trauer näherbringen?
Für die Figuren im Film ist das Gelingen dieser emotionale Übertragung gesetzt. Als Hilfereichung für weniger tanz-affine Menschen gibt es im Film auch verbale Benennungen des gestischen Geschehens. Andere eine Annäherung unterstützende Elemente sind die virtuos in Szene gesetzten Räume des Films, die vom lichtdurchflutete Ambiente des bretonischen Kulturzentrums Carré Magique bis zum weiten nächtlichen Blick aus einem Hochhaus.
Regisseur Damien Manivel hat beim Filmfestival Locarno den Leopard für die beste Regie gewonnen. Da der eigentlich für den 23. April angesetzte Filmstart aus bekannten Gründen nicht zustande kommen konnte, hat sich der Eksystent-Verleih entschieden, den Film bereits im März als sogenanntes »solidarisches PreRelease« auf der Online-Plattform Kino-on-demand.com zu starten. Das heißt, dass beim Streamen ein dem regulären Ticketanteil entsprechender Teil der Einnahmen an ein Kino der Wahl weitergeleitet wird.
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