Kritik zu Im Keller
Nach der großen Spielfilmtrilogie um Glaube, Liebe, Hoffnung kehrt Ulrich Seidl zu seinen filmischen Dokukompositionen zurück, für die er bekannt geworden ist
Das Projekt hinter Im Keller ist schon älter. Als Ulrich Seidl bei seinen Recherchen für Hundstage (2001) die Schauplätze in den Wiener Vorstädten suchte, fiel ihm bereits auf, wie bedeutend die Kellerräume für viele Eigenheimbesitzer waren, nicht nur »persönlicher«, sondern auch liebevoller eingerichtet als die offiziellen Teile einer Wohnung. Wahrhaftiger. Irgendwann würde er diesem Phänomen nachgehen.
Seidls Filme bestehen zum großen Teil aus tableaux (vivants): Das Tableau bedeutet zunächst nichts anderes als »Bild« oder »Gemälde«, im Sprachgebrauch aber verwenden wir es gemeinhin, um ein besonders bildhaftes Bild zu beschreiben, ein Bild, das seine Bildhaftigkeit, sein Arrangement betont. Daneben gibt es auch eine filmische Definition: Einstellungen des frühen Kinos, die auf einem fixen Gegenüber von Handlungsraum und Kamerastandort beruhen und die zumeist eine autonome Szene widergeben, wurden Tableaux genannt. Bei Seidl kommt die Planimetrie hinzu, die sehr oft mehrere Bildräume miteinander verbindet: Wir sehen von einem Raum durch eine Tür oder eine andere Öffnung in einen zweiten Raum, das Bild hat dabei sozusagen einen zweiten Rahmen erhalten. Im Theater (aber auch im Film) hatten Tableaux oft eine Funktion am Ende oder am Übergang von Akten oder Stücken. Sie fassten gewissermaßen eine (gesellschaftliche) Situation zusammen, oder sie beschrieben eine (wiederhergestellte) Ordnung.
Bei Seidl hat das Tableau eine Funktion, die der ursprünglichen entgegengesetzt ist. Es ist Instrument der Dekonstruktion. In der »Seidl-Einstellung« wird eine ganz eigene Beziehung zwischen den Protagonisten und den Zuschauern erstellt. Das erste Gefühl, »wie schön doch diese Bildkomposition ist«, wird durch seine schiere Dauer umgewandelt in eine zweite Empfindung: Man muss sich gegenseitig »aushalten«. Die Menschen vor der Kamera müssen den Blick aushalten, und die Zuschauer müssen die Menschen vor der Kamera aushalten, die im direkten wie im übertragenen Sinne ziemlich nackt sind.
Einige der Einstellungen von Im Keller sind vollkommen eigenständige Tableaux wie etwa ein alter Mann, der hinter seiner Modelleisenbahn mit dem Kopf wackelt. Mehr als dieses Arrangement wird nicht mitgeteilt – und es ist genug. In der ersten Einstellung des Films – ein Mann beobachtet seine Riesenschlange in einem Terrarium, die nach langem Lauern ein Meerschweinchen erwürgt – bilden die Blicke von Protagonist, Tier und Kinozuschauer eine Linie. Es ist nebenbei eine sehr tückische Einstellung, der man im Kino durch ein unangenehmes Entladungslachen zu entgehen versucht. Andere Einstellungen offenbaren ihren gesellschaftlichen und ihren individuellen Gehalt, indem sie zugleich Bildnisse und Selbstbildnisse der Protagonisten sind.
Das Tableau dient auch der Abwehr; es hebt das Beschämende auf. So entsteht als Seidl-Einstellung eine Schichtung von planimetrischen Bildern; die Kamera steht im rechten Winkel zu einer Komposition in der Fläche. Diese Komposition löst sich, wie schon in Seidls ersten Kurzfilmen, durch eine Anordnung der Figuren im Raum wieder auf, ohne damit eine »konventionelle Räumlichkeit« des Kinos zu erzeugen. Man macht es sich nicht gemütlich in einem Seidl-Film. Eine zweite Kompositionslinie bieten die Abfolgen des Erschreckenden, des Grotesken, des Komischen und des Anrührenden. Da ist eine Frau, die im Keller lebensechte Babypuppen hortet, die sie aus den Schachteln nimmt, um sie herumzutragen. Und da ist der Schusswaffenfetischist und verhinderte Opernsänger. Das Paar, das so einen schönen und heimeligen Keller eingerichtet hat – für die Feiern mit Familie und Freunden, die nicht mehr kommen. Ein trinkender Musikant, der Hitler-Devotionalien im Keller hortet und mit seiner Frau in den oberen Stockwerken nur per Telefon kommuniziert. Die SM-Sexarbeiterin mit ihrem männlichen Kollegen, das private Fitnessstudio etc. Was ist Dokument, was Inszenierung, was Selbststilisierung (und gar Selbstparodie)? Da wir in ein Unbewusstes, Verborgenes, »Wahres« hinabsteigen, ist diese Frage ohnehin nicht zu beantworten.
Im Keller, das ist natürlich auch ganz direkt ein Abstieg in die Sphären des Verborgenen, der Obsessionen, der Rituale, des mehr oder weniger »Verbotenen«. Natürlich, es stimmt wohl, was Seidl sagt: »Für die Österreicher hat der private Keller einen Stellenwert, den es möglicherweise so in anderen Ländern nicht gibt. Dort unten können sie – Männer, Familienväter, Hausfrauen, Ehepaare oder Kinder – sein, wie sie sein wollen.« Nicht nur deswegen ist Im Keller (wieder) ein sehr österreichischer Film oder auch ein Film über Österreich geworden.
Dieses Ausleben der unterdrückten Wünsche, der Keller als »eigentlicher« Lebensraum, diese skurrilen oder grotesken Kulte und Rituale haben immer auch etwas mit Macht und mit Gewalt zu tun. Manchmal anders, als es in den jeweiligen Klischees zu erwarten ist. Und es ist, als würden sich die Menschen mehr und mehr in ihre Keller zurückziehen, nicht aus Angst vor einer materiellen Katastrophe da oben, sondern weil die gesellschaftliche Normalität, die sie tagsüber leben (müssen), schon katastrophal genug ist. Aber der Keller ist weniger die Überwindung als die drastische Fortsetzung der sozialen und seelischen Katastrophen, dazu muss gar nicht erst aufscheinen, was in der Realität in einem österreichischen Keller geschah, durch einen Menschen, der den Namen Fritzl trug und so aussah, als hätte er für einen Seidl-Film gecastet werden wollen, oder was im anderen Kino, im Horrorfilm dort zu geschehen pflegt. Spätestens wenn die Männer in Im Keller ihre »Herrenwitze« erzählen, ihre Trophäen der Jagd und ihre Waffen präsentieren, ahnen wir, dass unsere Gesellschaften aus dem Keller heraus anders funktionieren, als wir es uns gern vorstellen. Das »Abgründige«, das Ulrich Seidl angeblich immer sucht, ist nicht das Gegenteil des Normalen, sondern ein Teil davon. Nicht, dass die Welten, in die wir in seinen Filmen gelangen, so »exotisch« sind, ist der Skandal, sondern dass sie uns so nahe sind.
Dass Seidl dabei nicht »voyeuristisch« ist, wie man ihm gelegentlich vorwirft, zeigt sich im Übrigen gerade in den Szenen der sexuellen Inszenierungen; was die Menschen da tun, kann einem schon sehr merkwürdig, sehr unangenehm erscheinen; die Menschen selber aber sind es nicht. Das ist vielleicht der genau umgekehrte Vorgang wie in einer »pornografischen« Inszenierung. In Seidls Filmen wird klar, dass das Alltägliche eine Schimäre ist, eine Illusion. Man muss, zum Beispiel, nur in den Keller mit den Menschen gehen, um das zu verstehen.
Natürlich sind die Seidl-Tableaux auch eine Signatur. Man erkennt eine Seidl-Einstellung in Sekundenschnelle; es ist das Erkenntnisinteresse, die plane Neugier auf die Menschen, die sie davor bewahrt, zur Selbstparodie zu werden. Denn Seidl benutzt diese seine Signatur wie das Tableau selber, nicht als effekthaften Abschluss, sondern als Methode. So wie sie von Film zu Film vertrauter wird, kann sie uns immer tiefer hinter die Illusionsschicht des Alltäglichen führen.
Was Im Keller von den drei Spielfilmen der Paradies-Trilogie mitnimmt, das ist, dass Seidl seine Figuren – komisch, brutal oder bizarr, wie sie sein mögen, und auch wenn er in seinen Bildern durchaus mitteilt, dass er auch selber erschrocken sein kann – im Grunde seines Herzens liebt. Wenn man miteinander in den Keller geht, dann muss man dabei irgendeine Art von Vertrauen haben. Weiß der Teufel, wo das herkommt.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns