Kritik zu Im Himmel, unter der Erde – Der jüdische Friedhof Weißensee
Aus der Luft sieht er aus wie ein barocker Garten, aus der Nähe wie ein Urwald mit Grabsteinen: der jüdische Friedhof in Berlin-Weißensee. Britta Wauers Dokumentarfilm erzählt aus Geschichte und Gegenwart dieser sehr lebendigen Nekropole
»Es tickt die Uhr. Dein Grab hat Zeit,/drei Meter lang, ein Meter breit./Du siehst noch drei, vier fremde Städte,/du siehst noch eine nackte Grete,/noch zwanzig–, dreißigmal den Schnee –/Und dann:/Feld P – in Weißensee –/in Weißensee.« Eine Grabstätte auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee, von dem er in seinem lakonischen Gedicht aus dem Jahr 1925 spricht, war Kurt Tucholsky nicht beschieden. Auch nicht den Berliner Juden, die als Opfer des nationalsozialistischen Rassewahns ein »Grab in den Lüften« (Paul Celan) fanden. Die Erinnerung an die Shoa ist in Britta Wauers wunderbarem Film über den größten noch aktiven jüdischen Friedhof Europas allgegenwärtig.
Bäume und Efeu überwuchern die alten Grabsteine. Eine Reihe von ihnen zeugt davon, dass viele Berliner Juden vor ihrer Deportation in die Vernichtungslager den Freitod wählten. Seit der Gründung im Jahr 1880 fanden mehr als 115.000 Verstorbene hier ihre letzte Ruhe, teils in Jugendstil und Art Deco aufwendig gestalteten Mausoleen. Weltliche Eitelkeit aber entspreche nicht dem jüdischen Verständnis von der Gleichheit aller Menschen, sagt der Rabbiner William Wolff, der heute die Bestattungen durchführt und die zunehmende Erosion alter jüdischer Begräbnisrituale beklagt. Für den Friedhofsinspektor Ron Kohls sind die Beerdigungen eher störendes Beiwerk, denn längst hat der Friedhof musealen Charakter angenommen. Besonders schöne Grabstätten werden aufwendig restauriert, in absehbarer Zeit soll der Friedhof zum Weltkulturerbe der Unesco gehören.
Museal indes geht es in diesem Dokumentarfilm nicht zu, sondern höchst lebendig. Britta Wauer lässt Menschen zu Wort kommen, die mit der Geschichte der Nekropole verwachsen sind. Der über 80-jährige Harry Kindermann erinnert sich an Tage, als er mit Freunden hier spielte, weil der Aufenthalt auf der Straße für jüdische Kinder zu gefährlich war. Hier lernte er seine Jugendliebe Marion kennen, die in Auschwitz ermordet wurde und deren Namen er nach dem Krieg seiner Tochter gab. Andere suchen die Gräber ihrer Vorfahren – dank der vollständig überlieferten Kartei ist die Suche oft erfolgreich. Die Schweizerin Gabriella Naidu entdeckte so die Grabstätte ihres Urgroßvaters Adolf Schwabacher, der zu Kaisers Zeiten Direktor der Berliner Börse war. Der Engländer Ronnie Golz kam nach dem Mauerfall nach Berlin, um die Geschichte seiner Familie zu recherchieren. Um einmal in Weißensee in der Nähe seines Urgroßvaters bestattet zu werden, trat er der Berliner jüdischen Gemeinde bei.
»Im Himmel, unter der Erde« fasziniert nicht allein durch die Geschichten seiner Zeitzeugen. Mit historischem Fotomaterial und Filmsequenzen aus den 20er und 30er Jahren ist die Dokumentation zugleich eine Tour d'Horizon durch mehr als ein Jahrhundert Berliner und damit deutscher Geschichte. Britta Wauer gelingt es, durch stimmungsvolle Bilder (Kamera: Kaspar Köpke), unterstützt von einer mal heiteren, mal melancholischen Musik (Karim Sebastian Elias), auch beim Zuschauer eine gewisse Gelassenheit angesichts des ewigen Werdens und Vergehens zu erzeugen.
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