Kritik zu Ich wünsche dir ein schönes Leben
Der Schmerz über die Abkehr der Eltern von ihren Kindern ist ein Lebensthema der Regisseurin Ounie Lecomte. In ihrem neuen Film versucht sie, beide Seiten zu versöhnen
Die Unschärfe erfüllt im Kino unterschiedliche, auch widersprüchliche Funktionen. Sie kann für das Entgleiten der Wirklichkeit stehen, kann die Chiffre eines Schwebezustands sein oder das filmische Symptom einer Depression. Sie ist ein Zwischenelement. Die Verlagerung des Fokus kann das zuvor Sichtbare zum Verschwinden und das Unbestimmte zum Vorschein bringen. Die Kamerafrau Caroline Champetier ist eine Meisterin im Einsatz dieses Stilmittels. In manchen Einstellungen von »Ich wünsche dir ein schönes Leben« führt sie die Verschwommenheit an den Rand der Abstraktion, in anderen gewinnen Figuren und Räume langsam Konturen, in denen sich eine Klärung der Verhältnisse abzeichnet. Im Schillern von Champetiers Bildern wird greifbar, was dieser Film über Verlust und Annäherung erzählen will.
Er führt zwei Figuren zusammen, von denen lange nur der Zuschauer weiß, was sie verbindet. Die Physiotherapeutin Elisa (Céline Sallette) tritt eine neue Stelle in Dunkerque an. Die Pariserin ist auf der Suche nach ihren Wurzeln: Sie will die Identität ihrer leiblichen Mutter erfahren, die sie vor 30 Jahren anonym entbunden hat. Die Parallelmontage des Drehbuchs von Ounie Lecomte und Agnès de Sacy stellt rasch klar, dass es sich bei der Gesuchten um Annette (Anne Benoit) handelt, die in der Kantine eben jener Schule arbeitet, die Elisas Sohn Noe besucht. Noch weiß sie nicht, dass der Junge, zu dem sie sich rätselhaft hingezogen fühlt, ihr Enkel ist. Nach einem Unfall lässt sie sich an Elisas Praxis überweisen. Aus der Begegnung der Körper entsteht eine Nähe, die in Vertrautheit umschlagen könnte. Die alleinstehende Annette fühlt sich aufgehoben in der Gesellschaft der Therapeutin. Es entsteht eine berückende Intimität. Die Therapeutin jedoch empfindet die Fragen ihrer Patientin zusehends als übergriffig. Brüske Schärfenverlagerungen scheinen den Bruch zwischen beiden zu besiegeln.
Es braucht etliche Verwicklungen, bis Tochter und Mutter endlich ihre Verwandtschaft erkennen. Ihre Konfrontation geht einher mit Verletzung und Zorn: Elisa musste ihre Geburt zugleich als einen Tod empfinden, denn die Mutter hat ihr zwar das Leben geschenkt, aber nichts gegeben. Dieser Konflikt, der von den Darstellerinnen großartig ausgetragen wird, hat für die französisch-koreanische Regisseurin eine eminent autobiografische Bewandtnis: Ounie Lecomte wurde im Alter von acht Jahren nach der Scheidung ihrer Eltern zur Adoption freigegeben. Ihre erste Regiearbeit »Ein ganz neues Leben« (2009) handelte bereits davon, wie Eltern ihre Kinder aufgeben können, diese sich selbst aber nicht. Auch ihr neuer Film ist getragen von der eigenen Betroffenheit. Das zeigt sich leider nicht nur in einer großen Einfühlung. Zuweilen verliert sie sich in der Überfrachtung durch zusätzliche Konflikte; wenn die Dialoge verdoppeln, was schon in den Gesten beredt genug ist, herrscht überdies arger didaktischer Überschuss. Am stärksten ist der Film, wenn er auf die Sprache der Körper vertraut. Mehr Klarheit braucht es im Kino manchmal nicht, um in die Seelen zu schauen.
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