Kritik zu The Grandmaster
Kung-Fu war immer schon ein bisschen mehr als bloße Kampfkunst – eine Lebensweise, eine Philosophie. Wong Kar-wai vollzieht nun mit seinem lang erwarteten »The Grandmaster« eine Verneigung vor dem Genre, vor allem aber vor zwei Menschen, die es geprägt haben wie niemand sonst: der unvergessene Bruce Lee und sein Lehrer, der mysteriöse Ip Man
Ein wahrer Meister hält die Virtuosität im Wartestand. In der Disziplin des Kampfkunstfilms hat dies der Regisseur King Hu vor Jahrzehnten vorgeführt: Er nahm sich Zeit, die Zuschauer an das Schauspiel des kunstfertigen Schlagabtauschs heranzuführen. In Filmen wie »Das Schwert der gelben Tigerin« und »Ein Hauch von Zen« baute er langsam eine Spannung auf, die sich zu gegebener Zeit furios entlud. Bis dahin war ihm die absichtsvolle Bewegung seiner Helden im Raum schon filmische Attraktion genug.
Auch Wong Kar-wai ist mit der Weisheit des Zögerns vertraut. Die Dramaturgie seiner Filme zeigt regelmäßig, dass er um den Wert des Vorenthaltens weiß. An Bescheidenheit jedoch gebricht es ihm. Er will nicht haushalten mit dem Spektakulären, sondern sofort den Beweis seiner Virtuosität antreten. Sie ist nicht Ziel, sondern Ausgangspunkt seines neuen Films. Die grandiose Ouvertüre von »The Grandmaster«, in der Ip Man im Regen einer Übermacht von Gegnern die Stirn bietet, lässt keinen Zweifel daran, dass er alles in den Schatten stellen will, was dem Publikum im Genre des Kung-Fu-Films bisher geläufig war. Er bietet das weit ausgreifende Vokabular seiner Bildsprache auf – Zeitlupe und Beschleunigung, Jump Cuts, die atemlose Detailliebe und den schwelgerischen Einsatz von Licht und Dekors – um in Szene zu setzen, wie sein Titelheld siegreich aus dem aussichtlosen Kampf hervorgeht, wie er die Szenerie in Besitz nimmt, das Ambiente zu seiner Bühne macht und die Witterung zu seinem Verbündeten.
Ist Wong ein Schüler, der es in Kauf nehmen muss, von seinen Meistern zu lernen, sie aber vor allen Dingen übertrumpfen will? Die grandiose Eröffnungsgeste ist heikel in Anbetracht einer Kampfkunst, deren philosophischer Kern die Selbstbeschränkung ist. Sie verletzt deren Ehrenkodex freilich nicht, denn ihr ist die Leichtfertigkeit fremd. Die Dauer der Szene trägt dem Rechnung, was Kung-Fu im Chinesischen bedeutet: die Zeit, die man etwas widmet. Sieg oder Niederlage sind ihr zweitrangig, für sie zählt der Weg dorthin, die Magie des Augenblicks, die für den versierten Melancholiker Wong stets die Doppelwertigkeit von Gegenwart und Vergehen hat.
Der Regisseur hat sich lange auf diesen Film eingestimmt. Seit er während der Dreharbeiten zu Happy Together auf dem Titel einer argentinischen Zeitschrift ein Bild von Ip Mans Schüler Bruce Lee entdeckte, spielte er mit dem Gedanken, sich in dieser Disziplin zu versuchen. Bei einer Etüde will er es nicht belassen. Sein Ehrgeiz reicht auch weiter, als dem Kampfkunstkino die höheren Weihen des Autorenfilms zu verleihen – das hat zuvor schließlich schon Ang Lee erledigt und nicht zuletzt Zhang Yimou, der das Genre an die Kalligraphie heranführte.
Nicht weniger als eine Enzyklopädie des Kung-Fu-Films soll »The Grandmaster« (dessen Titel zeitweilig auch im Plural stand) sein. Einen Monat dauerten die Dreharbeiten der Eröffnungsszene; die Bahnhofssequenz, in der Wong sich später noch einmal mutig überbietet, verschlang die doppelte Zeit. Eine Summe, wie sie Sergio Leone einst für den Western und den Gangsterfilm zog: ein ästhetischer Endpunkt, von dem es kein Zurück mehr gibt – oder zumindest ein Maßstab, den alle Nachahmer fürchten müssen.
Das kann man Wong als Hochmut auslegen. Geschadet hat er seinem Film nicht. Er leidet eher an einer narrativen Zerstreutheit, verliert regelmäßig Nebenstränge der Handlung aus den Augen. Sein Hauptstrang ist freilich interessant genug. Mit beachtlichem epischem Elan folgt er der Biografie Ip Mans, der im Kaiserreich geboren wurde, in der Zeit der Warlords heranwuchs, während der Republik gegen zahlreiche Widerstände zum Großmeister wurde und nach Ende des Bürgerkriegs in der Kronkolonie Hongkong Zuflucht fand. Wie Wongs vorangegangene Filme kreist »The Grandmaster« um das Thema der Entwurzelung, des Exils. Sepiafarbene Gruppen- und Familienfotos markieren die Epochenwechsel, bei denen Ip Man jeweils Entscheidendes verliert: seine Familie, sein Vermögen, seine Zuversicht.
Eine übergreifende Kontinuität findet die Erzählung in der Liebesgeschichte mit Gong Er (Zhang Ziyi), der Tochter eines einstigen Rivalen. Wong versäumt es, ihr romantischen Nachdruck zu verleihen; von unerfüllter Sehnsucht hat er vielleicht schon zu oft erzählt. Vielmehr konzentriert er sich auf ihr artistisches Kräftemessen. Ihre Kampfszenen sind gleichsam Akte der Kommunikation zwischen gleichrangigen Künstlern, die im Austausch das Wesen des anderen (sowie das eigene) erkennen wollen. Sie gehören unvereinbaren Schulen an: Ip Man popularisierte die Technik des »Ewigen Frühlings«, sie ist die letzte Siegelbewahrerin der »64 Hände«. Darin findet Wongs Film seine faszinierendste Facette: Er begreift die konkurrierenden Schulen als Ordnungsprinzip der sich rasant wandelnden und zwischen konservativem Norden und liberalerem Süden zerrissenen chinesischen Gesellschaft. Die Straße in Hongkong, in der man sie am Ende in einträchtiger Rivalität sieht, ist die, in der der Regisseur aufwuchs. Für den Film musste er sie rekonstruieren lassen. Sie ist ebenso Geschichte wie die mit Gong Ers Tod verlorene Kampfkunsttechnik.
Noch einen weiteren Abschied markiert dieser Film um Erbe und Überlieferung: Er ist der letzte, der auf Fujicolor gedreht wurde. Die Firma stellte mit Ende der Dreharbeiten die Produktion von Zelluloid ein.
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