Kritik zu Ghosts

© Antiheld Filmverleih

2021
Original-Titel: 
Hayaletler
Filmstart in Deutschland: 
07.10.2021
L: 
90 Min
FSK: 
Ohne Angabe

»Short Cuts« auf Türkisch: In ihrem Debütfilm verfolgt die Regisseurin Azra Deniz Okyay verschiedene Protagonisten in Istanbul, deren Wege sich ­kreuzen. Ein Stromausfall am Ende verbindet

Bewertung: 3
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Wie Geister ziehen sie durch ein ­Istanbul, das in Azra Deniz ­Okyays Debütfilm »Ghosts« selbst etwas Geisterhaftes hat: Didem (Dilayda Güneş), die sich mit ihren Freundinnen auf einen Tanzwettbewerb, ihre große Hoffnung, vorbereitet, und Iffet (Nalan Kuruçim), eine Straßenreinigerin, deren Sohn im Gefängnis sitzt. Sie sind die Hauptfiguren neben einer feministischen Künstlerin und Aktivistin und einem zwielichtigen Typen, der syrischen Geflüchteten überteuerte Räume vermietet und als Handlanger für die Immobilienfirma »Neue Türkei« alte Häuser zum Einsturz bringt.

Die Stadt am Bosporus ist in »Ghosts« zerrissen von gegensätzlichen Zeitströmen: einerseits vom gentrifizierungsbefeuerten Kahlschlag in eine von vielen gefürchtete Zukunft, andererseits von gesellschaftspolitischen Rückschritten. Von Liberalität keine Spur, stattdessen werden Didem und ihre Freundinnen als »Huren« beschimpft, als sie in einem Innenhof proben. Es braucht keine direkten politischen Bezüge zu Recep Tayyip Erdoğan, um die Folgen seiner reaktionären Politik zu verstehen. 

Sie habe einen Film über die Hauptpro­bleme ihrer Generation machen wollen, sagt Okyay. Herausgekommen ist das flirrende Porträt einer Generation zwischen Armut, staatlicher Willkür und Repressionen, das bei der Settimana della Critica in Venedig 2020 mit dem Hauptpreis ausgezeichnet wurde. 

»Ghosts« ist ein Film in Fragmenten. Es ­erinnert an Robert Altmans Großstadtpanoptikum »Short Cuts«, wie Okyay zwischen ihren Protagonisten hin und her springt. Und wie in besagtem Klassiker, dem ein Erdbeben am Filmende einen Rahmen verleiht, gibt es auch in »Ghosts« ein verbindendes Großereignis: einen landesweiten Stromausfall, der zugleich eine Metapher für die Dunkelheit ist, in der die Gesellschaft zu versinken droht.

Sicher darf als kleiner Lichtblick in diesem düsteren Film gelesen werden, wenn Didem in einer wunderbaren Szene im Schein ihres Smartphones durch eine dunkle Straße tanzt. Überhaupt sind da einige wunderbare Momente: Licht in den Haaren der Frauen, die Tänze am Tag, das Streunen durch die verwinkelten Gassen, eine Party in privater Freizügigkeit. Okyay sucht die Nähe zu ihren Figuren, auch visuell, wenn die semidokumentarischen Bilder uns immer wieder in Großaufnahme in ihren Gesichtern lesen lassen.

Dass man ihnen dennoch nie richtig nahekommt, liegt zum einen daran, dass »Ghosts« sich in seiner Laufzeit von knapp 90 Minuten an arg vielen großen Themen abarbeitet, anstatt filmisch stärker zu verdichten. Und zum anderen daran, dass Okyay die Fragmentierung auch auf der Zeitebene als Stilmittel einsetzt. Es wirkt erzählerisch nicht sehr elegant, wenn Szenen doppelt auftauchen, teils aus anderen Perspektiven erzählt. Ein energiegeladenes Debüt ist »Ghosts« dennoch. Mit Okyay betritt eine politisch ­engagierte und ambitionierte Filmemacherin das Parkett, die man in den nächsten Jahren im Auge behalten sollte.

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