Kritik zu Final Account
Sie haben es alle gewusst: Der britische Dokumentarist Luke Holland hat Zeugnisse zur Nazizeit gesammelt
Wer die Nazizeit noch bewusst miterlebt hat, als Zeuge, Opfer oder Täter, der ist heute in seinen Neunzigern. Bald wird man die Generation derjenigen, die willige Helfer, überzeugte Täter oder auch nur distanzierte Beobachter waren, nicht mehr befragen können. Der britische Dokumentarist Luke Holland hat ab 2008 den epochalen Versuch unternommen, noch einmal Gespräche zu führen, mit Männern, die Angehörige der Totenkopf-SS oder auch »nur« der Waffen-SS waren, die als Aufseher gearbeitet haben in Konzentrationslagern, aber auch mit Frauen, die Schreibarbeiten erledigt haben in einer Baracke neben der U-Boot-Fabrik, in der die Häftlinge schuften mussten. Zig Hundert Gespräche hat Holland geführt, vielleicht drei Dutzend hat er in »Final Account« verwendet, immer wieder unterbrochen durch filmische Archivaufnahmen und Fotografien.
»Täter sind nicht böse. Sie werden gemacht«, heißt es in einem Insert schon zu Beginn des Films. Und ganz konsequent spürt der Film der Jugend dieser Tätergeneration nach, der Begeisterung in den Jugendorganisationen der Nazigesellschaft, den autoritären Strukturen, die es schon vor der »Machtergreifung« gab. Erzählt wird vom Boykott jüdischer Geschäfte und von den Novemberpogromen 1938, als die Nazis deutschlandweit 1400 Synagogen in Brand steckten. Und die Feuerwehren diese nicht löschten. Diese Erinnerungen an die Jugend fungieren nie als Entschuldigung, aber als Zeugnisse der Formierung einer gewalttätigen Gesellschaft und der Zurichtung von Charakteren.
Wann ist man ein Täter? Diese Frage, die der nur als Stimme anwesende Holland ein paar Mal stellt, zieht sich durch die ganzen Gespräche. An manchen Stellen wünscht man sich, Holland hätte länger bei einzelnen verweilt. Viele Gräuel werden angesprochen, die »Todesstiege« in Mauthausen, Folterungen, die Strategie der verbrannten Erde beim Rückzug aus der Sowjetunion, ehemalige Nachbarinnen, heute in einem Altersheim, berichten vom Rauch und Gestank aus den Krematorien. Die Verdrängungsstrategie ganzer Jahrzehnte, »Davon haben wir doch gar nichts gewusst«, zerpflückt der Film gewissermaßen im Nebenbei. Jeder hat es gewusst.
Der Dokumentarist Luke Holland ist hierzulande weitgehend unbekannt. Er hat viel für die BBC gearbeitet. Seine Eltern gehörten der pazifistischen christlichen Bruderhof-Gemeinschaft an. Erst spät erfuhr Holland, dass seine Mutter eine aus Wien geflüchtete Jüdin war, deren Eltern von den Nazis ermordet wurden. Holland starb mit 70 Jahren an Krebs, konnte aber noch »Final Account« beenden. Der Film ist sein Opus magnum und sein Vermächtnis.
Und wie ein Vermächtnis wirkt auch der Schluss des Films, in dem Holland zwei grundsätzliche Haltungen gegenüberstellt: den Waffen-SS-Angehörigen, der nichts bedauert und den Holocaust leugnet, und einen bereuenden ehemaliger SS-Mann, der im Haus der Wannsee-Konferenz mit rechten Jugendlichen diskutiert, die von Ehre und Volk schwadronieren. Die Ewiggestrigen sterben nicht aus.
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