Kritik zu Favoriten
Die österreichische Dokumentarfilmerin Ruth Beckermann hat drei Jahre lang eine Wiener Grundschulklasse begleitet. Empathisch und doch mit interessierter Diskretion zeichnet sie ein zuletzt hoffnungsvolles Bild einer diversen, durch eine engagierte Lehrerin zusammengeschweißten Schulklasse
Die Institution Schule ist in den Kinos angekommen. In seinem Schulthriller »Das Lehrerzimmer« verdichtete İlker Çatak einen Tag in einer Bildungsinstitution zum Brennglas unserer von Machtgefällen und Vorurteilen durchzogenen Gesellschaft. Maria Speth begleitete in ihrem Dokumentarfilm »Herr Bachmann und seine Klasse« über ein Jahr hinweg einen unkonventionellen Lehrer und seine multikulturelle 6. Klasse. Schulen sind, das zeigt sich in beiden Filmen, ein Mikrokosmos, in dem sich die Diskurse und Themen unserer Gegenwart spiegeln.
Mit ihrem Dokumentarfilm »Favoriten« bereichert nun auch die österreichische Regisseurin und Autorin Ruth Beckermann das Subgenre Schulfilm um ein berührendes Werk voll wacher Empathie. Der Titel verweist einerseits auf den gleichnamigen Wiener Bezirk, in dem Beckermann drei Jahre lang eine Grundschulklasse vom zweiten bis zum Ende des vierten Schuljahrs in der Bernhardtstalgasse, in der größten Volksschule der Stadt, begleitet hat. Zugleich beschreibt er, was die Kinder für die mit allen pädagogischen Wassern gewaschene Lehrerin Ilkay Idiskut sind: ihre Favoriten, denen sie, gesellschaftlichen Vorurteilen zum Trotz, mit Geduld und Empathie den Schulstoff und den Umgang mit- und füreinander beibringt.
Favoriten ist ein ehemaliger Arbeiter- und Industriebezirk, der wohl vielem entspricht, was in den Medien gerne als »sozialer Brennpunkt« bezeichnet wird. Beckermann zeigt auch, dass es für Idiskut und das System, in dem sie arbeitet, eine Herausforderung ist, den Kindern mit ihren unterschiedlichen Migrationsgeschichten gerecht zu werden. Die Jungs und Mädchen in der Klasse stammen aus der Türkei, aus Syrien, Serbien, Rumänien oder Mazedonien und sprechen teils schlecht Deutsch. Keiner ist, das wird in einem augenzwinkernden Moment bei einer Exkursion in den Stephansdom deutlich, römisch-katholisch – eine Information, auf die der Priester ein bisschen verdutzt, aber gelassen reagiert.
Doch problematisiert der Film eben nicht die Herkünfte der Kinder, sondern die strukturellen Probleme des Bildungssystems generell. In einer Szene erklärt der Rektor der Schulbelegschaft, dass es aktuell keine Schultherapeutin gebe und die Schulsozialarbeiterin abgeworben wurde. Die Themen Unterfinanzierung und personelle Engpässe begleiten den Film als Grundrauschen bis zu einem Ende, bei dem man aus Granit sein müsste, um nicht berührt zu sein.
Trotz allem zieht die Lehrerin, die ebenso wenig idealisiert wird wie die Kinder, ihr Ding durch. Wir lernen sie und ihre Schülerinnen und Schüler kennen, deren Mütter oft Hausfrauen sind und deren Väter in den Heimatländern Schneider oder Studierte waren und nun auf Baustellen, bei der Post oder in der Gastronomie arbeiten. »Mein Papa macht Zebrastreifen und die 30er-Zone auch«, sagt ein Schüler, und obwohl »Favoriten« die Schule beziehungsweise deren Peripherie nicht verlässt, erzählt er durch die Geschichten der Kinder viel über die soziokulturellen Verhältnisse und über Migrationserfahrungen.
Zwischen Coronamasken, Kopftüchern, Mathe, Deutsch oder Sportunterricht tun sich kleine Welten auf. Die Kinder diskutieren mit der Lehrerin, warum Jungs eben nicht die Kleider von Mädchen bestimmen dürfen, sie sprechen über den Krieg in der Ukraine oder besuchen eine Moschee. Die Regisseurin bleibt meist die neutrale Beobachterin und nimmt nur Einfluss, als sie den Kindern Handys gibt, mit denen sie Videos von sich und ihren Mitschülern anfertigen können. Diese hereinmontierten Aufnahmen eröffnen neben Beckermanns empathisch-soziologischer eine weitere, kindliche Perspektive.
»Favoriten« liefert einen bereichernden, hoffnungsvollen Blick in eine diverse, durch eine engagierte Lehrerin zusammengeschweißte Schulklasse. Ohne didaktischen Zeigefinger verdeutlicht Beckermann: Bildung und Gemeinschaft sind zentrale Pfeiler unserer Gesellschaften.
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