Kritik zu Europa Passage
Dokumentarfilmer Andrei Schwartz macht sichtbar, was viele ausblenden: Über einen Zeitraum von fünf Jahren hat er eine Roma-Familie begleitet, die zwischen ihrer rumänischen Heimat und Hamburg, wo sie auf der Straße bettelt, pendelt
Sie sind die, die man nicht sieht. Beziehungsweise nicht sehen will. Die, die an den schmutzigen Ecken sitzen und die Hand aufhalten oder den Pappbecher hin. Bettler. Die einen dann aber in rudimentärem Deutsch ansprechen mit »Hallo Madam« oder »Alles Gute für die Familie« oder so ähnlich und solcherart sicherstellen, dass man sie eben doch nicht völlig ignorieren kann. Es gibt verschiedene Schubladen für diese Leute, auf einer davon steht: organisierte Banden aus Rumänien, quasi Sklaven, die am Ende des Tages ihren Verdienst bei einem Chef abliefern müssen, der sie im Mercedes-Benz von ihrer Bettelstation abholt. Aber was weiß man schon. Man müsste mit den Leuten mal reden und sich erkundigen.
Andrei Schwartz, 1955 in Bukarest geboren, 1973 nach Deutschland übersiedelt, hat sich die Mühe gemacht und eine Gruppe von Roma, die zwischen Hamburg und ihrem Heimatdorf Namaesti in den Karpaten pendeln, von 2016 an über einen Zeitraum von fünf Jahren begleitet. Als Landsmann hat er leichteren Zugang zu jenen, die sich im Alltag bemühen, unter dem Radar der Ordnungsmacht zu bleiben und möglichst wenig aufzufallen. Die in Unterführungen schlafen oder in abrissreifen Baracken und allmorgendlich ihre rudimentäre Bettstatt zusammenrollen und in ein Versteck tragen.
Was Schwartz uns vermitteln kann: Es ist nicht so, dass diese Menschen nicht arbeiten wollen würden, aber es ist das alte Lied, ohne Arbeit keine Wohnung und vice versa, und außerdem hat natürlich auch der Arbeitsmarkt in Deutschland nicht auf ungelernte Analphabeten gewartet. Namaesti ist ein Dorf von Tagelöhnern, man muss sagen: gewesen, denn die Betriebe im Umkreis gingen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sukzessive pleite und das Besenmachen bringt auch nicht mehr so viel ein wie früher. Maria, die gemeinsam mit ihrem Mann Tirloi im Zentrum von »Europa Passage« steht, geht in Hamburg betteln, damit sie ihre fünf Enkel- und eigene Kinder zur Schule schicken und in ihrem Haus ein Bad einbauen lassen kann. Natürlich hat sie dauernd Heimweh.
Es ist eine ziemlich bittere Vorstellung, dass es sich tatsächlich »lohnt«, für »die paar Euro«, die an einem Tag vor einem Warenhaus oder Supermarkt zusammenkommen, Familie und Heimat zu verlassen. Und es sagt einiges aus über die sozialen Gefälle im Wirtschaftsraum Europäische Union. Man mag das banal finden und »Europa Passage« eine filmisch unspektakuläre Dokumentation, und doch gelingt ihr etwas ausgesprochen Wichtiges. Schwartz' Blick auf die Leute aus Namaesti ist von Respekt geprägt und gibt den Armen eine Würde, die ihnen in der Situation, in die sich zu begeben sie gezwungen sind, oftmals abhandenkommt. Und es ist diese Art der Wahrnehmung, die sich als Aufforderung zu einer Haltungsänderung auch an die Zuschauer richtet.
Einmal stehen Maria und Tirloi auf einem Bahnsteig, sie schauen auf eine Nullachtfünfzehn-Straßensituation mit 60er-Jahre-Hochhausbebauung, es ist ein grauer, nasser Tag und Maria sagt zu ihrem Mann: »Schau, wie schön diese Stadt ist.« Es bricht einem das Herz.
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