Kritik zu Eisenstein in Guanajuato
Mehr Imagination als Rekonstruktion: Peter Greenaway erzählt schwungvoll und überraschend zugänglich von »zehn Tagen, die Eisenstein erschütterten«
Eine große Saga über ein Land, seine Geschichte und seine Mythen sollte »Que Viva México!« werden, jenes legendenumrankte Projekt, für das Sergej Eisenstein über viele Monate hinweg große Mengen an Material drehte, das der sowjetische Regisseur aber nie zu einem Film montiert hat. Dieses unvollendete Werk bildet den Hintergrund für Peter Greenaways »Eisenstein in Guanajuato«, der sich freilich mehr für die Wirkung Mexikos auf den Russen interessiert als für Spekulationen darüber, welcher Meilenstein der Filmgeschichte uns mit seinem ambitionierten Werk entgangen ist.
Eisenstein, grandios gespielt vom Finnen Elmer Bäck, der bisweilen koboldhaften Übermut an den Tag legt, dann wieder wie ein schüchterner Teenager durch die Welt voller neuer Eindrücke tapst, verbringt 1931 einige Tage in Guanajuato, trifft die Künstler Diego Rivera und Frida Kahlo und lässt sich von seinem Führer Palomino Canedo in die Geheimnisse des Landes einweihen – und in andere Geheimnisse, die den jungfräulichen 33-Jährigen in größte Aufregung versetzen.
Greenaway erzählt davon mit kräftigen Farben und großem Schwung. Die Leichtigkeit seines neuen Films mag insbesondere jene überraschen, die mit seinen zunehmend »verkopften« Werken ab »Prosperos Bücher« nicht mehr viel anfangen konnten oder wollten. Auch jetzt zaubert Greenaway mit Splitscreen, Inserts, Wiederholungen und Animationen, spielt dabei auch auf Eisensteins »Montage der Attraktionen« an, doch er bleibt erstaunlich zugänglich. Mehrere zentrale Szenen inszeniert er ganz auf Figuren und Handlung konzentriert, so dass man in die Erzählung eintauchen kann. Dann wieder tobt ein assoziativer Wirbelsturm aus Bildfragmenten, zerfetzten zeitgenössischen Fotografien und Ausschnitten aus Eisensteins Filmen und erinnert daran, dass die Spielszenen eben nur Spiel sind. Statt seine Fiktionen zu beglaubigen, dekuvriert Greenaway sie. Sogar in einer brillanten langen Plansequenz in einem Restaurant untergraben subtile Sprünge die zeitliche wie räumliche Kontinuität.
Mit viel Humor bringt der Film Eros und Thanatos als die beiden »unverhandelbaren« Faktoren des Lebens zusammen. Durch die Begegnung mit der mexikanischen Kultur, in der der Tod selbstverständlicher Bestandteil des Alltags ist und nicht nur eine »lumpige Begegnung am Lebensende«, erfährt Eisenstein mindestens ebenso viel über sich selbst wie über das fremde Land. Und so freizügig, wie Greenaway die sexuelle Initiation des unerfahrenen Sergej in Szene setzt, so frappierend direkt rückt er auch die mumifizierten Leichen im Museum der Toten ins Bild, das Eisenstein besucht.
Man könnte »Eisenstein in Guanajuato« für den heiteren Gegenentwurf zu einer anderen großen Mexikofantasie halten: In Malcolm Lowrys Roman »Unter dem Vulkan« führt der Weg des Protagonisten durch mythische Bilderwelten in tiefste Finsternis. Greenaways Hauptfigur tänzelt und stolpert durch die fremde Sinnenwelt in seine ganz persönliche Revolution, und diese Befreiung zelebriert der Film mit einem leichtfüßigen, sehr unterhaltsamen Seiltanz zwischen Fiktionalisierung und Dekonstruktion.
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