Kritik zu Ein kleines Stück vom Kuchen
Die subversive Komödie über die Tücken der Rüstigkeit im heutigen Iran erhielt auf der diesjährigen Berlinale die Preise der ökumenischen Jury und der internationalen Kritik
Die Freundinnen haben sich lange nicht gesehen. Früher trafen die »alten Mädels« sich einmal wöchentlich, jetzt klappt es höchstens noch einmal im Jahr. Gastgeberin Mahin hat ein Festmahl gekocht, bei dem sie vergnügt über ihre Gebrechen und über nichtsnutzige Männer plaudern. Eine von ihnen will sich freilich nicht damit abfinden, den Rest ihres Lebens in Enthaltsamkeit zu verbringen.
Die temperamentvolle Dame erzählt, wie sie unlängst einen eleganten Herrn bezirzte. Als er sie in seinen Wagen einlud, zögerte sie nicht lang. Dabei sei entscheidend, schärft sie den Freundinnen ein, nicht auf dem Rücksitz Platz zu nehmen. Von dort aus gelinge die erotische Anbahnung nicht. Nein, eine Verführerin gehöre auf den Beifahrersitz. Wieder einmal lehrt uns das iranische Kino, welch zuverlässiger Schauplatz das Auto ist, wenn es darum geht, sich Freiräume in der Gegenwartsgesellschaft zu erstreiten.
Die Erzählung der lebenslustigen Freundin gibt Mahin (Lili Farhadpour) zu denken. Die 70-Jährige hat den Punkt überschritten, an dem das Alleinsein in Einsamkeit umgeschlagen ist. Sie ist schon seit 30 Jahren Witwe, ihre Tochter lebt mit den Enkelkindern in Europa. Die Feststellung, der Iran sei ein Land, das man besser verlässt, war bereits in »Nader und Simin« brisant. Das Regieduo Maryam Moghadam und Behtash Sanaeeha versteht es, schon in der banalen Lebenswirklichkeit Zündschnüre auszulegen.
Sie zeigen eine Gesellschaft, in der das Alter geachtet (sei es nun aus Tradition oder einfach pflichtschuldig), aber an den Rand gedrängt wird. Mahin ist resolut, sie schminkt sich und geht aus. Es gibt nicht viele Orte, an denen sie auf Männerfang gehen kann. Das alte Hyatt, in dem man sich einst begegnen konnte, heißt jetzt »Freiheit« und ist menschenleer. So tief ausgeschnittene Kleider wie damals dürfte ohnehin keine Frau mehr tragen. Während eines Spaziergangs im Park greift Mahin beherzt ein, als Sittenpolizisten junge Frauen verhaften wollen, deren Kopftuch nicht schicklich sitzt: »Für ein paar Strähnen bringt ihr sie um?« Die Überforderung der Beamten ist durchaus amüsant, aber den Ernst der Lage verlieren Moghaddam und Sanaeeha nicht aus dem Blick. Mahin entdeckt, dass sie unverblümt sein kann. So geht es den gesamten Film über: Seine Situationskomik ist stets Charakterkomik.
In einem Restaurant für Rentner fällt ihr ein zurückhaltender Mann ins Auge, der Taxifahrer Faramarz (Esmaeel Mehrabi), dem sie flugs an seine Arbeitsstelle folgt. Beharrlich wartet sie auf seine Rückkehr und nimmt auf dem Beifahrersitz Platz. Der Zufall hat die richtige Wahl getroffen. Der Gleichaltrige ist schüchtern, aber entgegenkommend. Was sich nun anbahnt, spielen Farhadpour und Mehrabi als eine leise, zunächst diskrete Übereinkunft. Mahin lädt Faramarz zu sich ein und verwöhnt ihren Gast mit Leckereien. Faramarz erwidert ihre Offensive mit einer Kaskade von Komplimenten. Sie turteln so ausgelassen miteinander wie wohl seit seit ihrer Jugend nicht mehr. Unternehmungslust schießt durch ihre Glieder: Die Nacht soll ein Festtag werden. Nun kann es anzüglicher zugehen. Sie parfümiert sich, lüpft dazu auch den Rock. Für jedes Kapitel des Stelldicheins legt sie ein neues Kleid an. Es gibt viel aufzuholen. In westlichen Filmen duschen Paare oft miteinander, gibt er zu bedenken. Mahins Schamhaftigkeit pariert den Vorschlag einfallsreich.
Es ist eine Wonne, den zweien zuzuschauen, wie sie über die Stränge schlagen. Ihrem zielstrebigen Überschwang hat die Regie einen Boden des Bangens eingezogen. Ob Faramarz sich übernommen hat, als er in der Apotheke blaue Pillen kaufte? Und wird die neugierige Nachbarin noch die Sittenpolizei alarmieren, die nicht nur die öffentliche Sphäre überwacht? Die Ausgelassenheit hat einen weiteren melancholischen Mitklang: Die Jugend, von der sie schwärmen, lag vor der islamischen Revolution. Seither haben sie sich in einem glanzlosen Danach eingerichtet. Auch die verlorene Heimat verlässt man nicht so leicht.
Kommentare
Einen guten Film bitte nicht verharmlosen wollen!
Einen guten Film bitte nicht verharmlosen wollen!
Um es vorweg zu sagen: Ich finde den Film gut. Nicht so gut finde ich dagegen seine Ankündigungen und diverse Besprechungen, nicht zuletzt die von Gerhard Midding auf dieser Seite. Allenthalben ist von "subversiver Komödie" die Rede, bestenfalls noch von "Tragikkomödie". Was an dem Film jedoch tatsächlich tragisch ist, bleibt weitgehend ausgeblendet.
Soll das Ende nicht verraten werden, um die Zuschauer in Spannung zu halten und schließlich zu überraschen? Mag sein, darüber würde ich bei einem Trailer oder sonstiger Ankündigungswerbung noch hinwegsehen, nicht aber bei Rezensionen.
Ich selbst hatte beim Anschauen großes Vergnügen bei den ersten zwei Dritteln des Films – und auch um mich herum wurde gelacht, wie selten im Kino erlebt. Toll, wie sich Mahin den Taxifahrer Faramarz "schnappt", ihn zu Hause verwöhnt mit gutem Essen und Trinken – letzteres aus einer riesigen Flasche Wein, die lange aufbewahrt wurde für besondere Gelegenheiten. Super couragiert auch die Szene, wie sie eine jüngere Frau aus den Fängen der Sittenpolizei befreit und ermutigt, künftig selbst bewusster aufzutreten und sich nicht klein machen zu lassen.
Als Faramarz Mahin im Taxi zu ihrer Wohnung chauffiert, muss er den Wagen an einer Apotheke halten – um dort seine Medikamente abzuholen – wie er sagt. Nach kurzer Zeit und völlig durchnässt vom Regen kehrt er zurück, um die Fahrt fortzusetzen. Mahin allerdings, die ihn die ganze Zeit über sehr viel fragt und dabei keine Tabus zu kennen scheint, will eines ausgerechnet nicht wissen: Was das für Medikamente sind und welche Krankheit er wohl hat? Nun ja, man kennt das, z.B. aus der Parzival-Sage: Eine ausgelassene Frage kann Unheil bringen.
Und so kommt es leider auch in diesem Fall. Die beiden frisch verliebten 70-Jährigen amüsieren sich im Garten, tanzen durch die Wohnung, Faramarz steckt voller Komplimente, anschließend sitzen sie (angezogen) gemeinsam unter der Dusche im Badezimmer (köstlich!), die neugierige Nachbarin ("sie hätte Männerstimmen gehört und wolle fragen, ob Hilfe nötig sei") wird derweil geschickt abgefertigt.
Dann plötzlich aber – Mahin hat noch einen extra schönen Sahnekuchen gebacken – entdeckt sie, aus der Küche kommend, Faramarz auf ihrem Bett liegend. Denkt, er schläft schon, will ihn liebevoll wecken, aber vergeblich. Der Mann ist tot – allen verzweifelten Wiederbelebungsversuchen der Frau zum Trotz.
Im Kino wurde es gleichermaßen totenstill, fast wollte man Mahin zu Hilfe eilen, um Faramarz doch noch zu retten und zurückzuholen.
Wie die schöne, im letzten Drittel schlimm verlaufende Geschichte in der Folge ausgeht, kommt wiederum einem Bravourstück gleich, indem es die völlig am Boden zerstörte Mahin schafft, ihren Faramarz (seiner Leiche schiebt sie überdies und zum Abschied noch ein kleines Stück vom bis dahin unberührt gebliebenen Kuchen in den Mund) in einem Gartenloch zu beerdigen – unentdeckt von allen Sittenwächtern oder ähnlichen Gestalten.
Damit hat immerhin der Taxifahrer seinen letzten Wunsch erfüllt bekommen, welchen er zuvor schon beim Essen erzählt hatte: Bitte nicht alleine sterben zu müssen, gefunden womöglich erst nach Wochen in einem einsamen Zimmer. Mahin indes muss alleine zurückbleiben, erneut zu einer Einsamen mutiert.
In der Hosentasche von Faramarz findet sie, während sie den Toten zurechtmacht, eine Tablettenpackung, wobei eine der darin enthaltenen "blauen" Pillen fehlt. Sollte der Geliebte an einer einzigen Viagra gestorben sein? Oder war es zusätzlich der für ihn ungewohnte Wein, das ebenso leckere Essen, die wiedererwachte Lebensfreude, die ohnehin angeschlagene Gesundheit, das unerwartete Glück – oder alles zusammen?
Kann wohl sein, denke ich und überlege – nachdenklich geworden – weiter: Irgendwie kann der Mensch in einer solchen Diktatur wie im Iran zwar versuchen, ins Private zu flüchten und individuell auszuweichen, nur dass es letzlich halt doch nicht gelingt – und eine wirkliche Lösung nicht ersetzt.
Für mich beinhaltet das die eigentliche Botschaft und – bei aller Hochachtung – weniger jenes, was die Filmemacher selbst zum Sinn des Films, u.a. im Spiegel-Interview erklären: "Dieses langweilige Leben ist es wert, gelebt zu werden, selbst wenn nur die Aussicht auf eine einzige Nacht voller Freude besteht." (Nr.27/24)
Wahrscheinlich dürfen sie als im Iran Verfolgte auch nicht alles sagen, worum es ihnen geht, doch wir hier mitten im "sicheren" Europa sollten neben der Freude, die uns der Film zweifellos schenkt, seine tiefe Tragik nicht zur Nebensächlichkeit degradieren oder sie sonstwie verharmlosen wollen.
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