Kritik zu Die untergegangene Familie
Im stilsicheren Regiedebüt der Schauspielerin María Alché führt ein Verlust in einen irritierenden Schwebezustand zwischen Erinnerung und Alltag
»Sie war besonders, sie war magisch«, sagt die Nachbarin über Marcelas plötzlich verstorbene Schwester Rina, und irgendwie scheint die Magie der Verstorbenen sich nun auf die trauernde Marcela zu übertragen. Sie verbringt viel Zeit in Rinas Wohnung, versucht Ordnung in die Hinterlassenschaften eines Lebens zu bringen, und löst Schritt für Schritt den Hausstand auf. Der Film zeigt sie immer wieder beim Sortieren von Kleidern oder beim Grübeln über alten Fotos. Irritationen schleichen sich in Marcelas Alltag ein, eine Fremdheit auch im Umgang mit ihrem Mann und ihren drei halbwüchsigen Kindern.
Die Inszenierung von María Alché, Jahrgang 1983 und bislang als Schauspielerin und Fotografin in Erscheinung getreten, zeigt das ganz subtil und deutet vieles lediglich an. Im Zusammenspiel mit dem nuancierten Sounddesign und der Kameraarbeit Hélène Louvarts (»Pina«, »Glücklich wie Lazzaro«), die die Innenszenen meist durch Vorhänge beleuchtet und den Bildern damit eine schwebende Entrücktheit verleiht, entsteht tatsächlich die Atmosphäre einer »untergegangenen« Welt, wie einige Meter unter der Wasseroberfläche. Umso eindrucksvoller ist diese mysteriöse Stimmung, weil das Spiel der Darsteller das Leben dieser Familie vollkommen natürlich und alltäglich wirken lässt. Wenn dann beispielsweise Marcela mit einem Teller vor dem Fernseher sitzt, der Wind eines unsichtbaren Ventilators durch ihr Haar und die Zimmerpflanze hinter ihr geht und sich im TV sehr langsam, geradezu lasziv eine Schlange häutet, evoziert Maria Alché eine Art flüchtige Fantastik, die nicht zufällig an ihre Landsfrau Lucrecia Martel (»Der Morast«, »Zama«) erinnert: Alché hat nicht nur als Schauspielerin in »La nina santa« unter Martels Regie gespielt, Martel firmiert bei »Die untergegangene Familie« auch als Beraterin. Und doch hat dieser Film sein ganz eigenes Flair und erstaunt mit einer Stilsicherheit, die niemandem etwas beweisen muss.
Äußerlich geschieht nicht allzu viel – Marcela driftet nicht in handfesten Wahnsinn, und die Geister von Verwandten und Bekannten, die ihren Alltag bald bevölkern, wirken auch nicht bedrohlich. Sie sind einfach da, sitzen auf dem Sofa oder am Tisch und unterhalten sich über Vergangenes. Marcelas Beunruhigung wird nicht ausagiert, nur einmal bricht sie unvermittelt in Tränen aus. Doch im wunderbar feinen Spiel von Mercedes Morán ist zu lesen, wie tief die Veränderungen sie erschüttern. Als sie und ein (erwachsener) Freund ihrer ältesten Tochter sich näherkommen und sich eine Romanze anbahnt, geschieht auch dies in aller Diskretion. Und ist dieser junge Mann nicht selbst schon fast ein Gespenst? Wegen eines Jobs in der Ferne hatte er bereits seine Wohnung aufgelöst und alle Brücken abgebrochen, als dann ganz kurzfristig die Absage des Arbeitgebers kam. Ort- und bindungslos lässt er sich nun treiben.
Auch wenn der Film manchen Zuschauern zu metaphorisch, mithin »inhaltlich« zu unergiebig sein mag, erzählt »Die untergegangene Familie« doch mit bewundernswerter Nuanciertheit von der Fremdheit, in die ein Ereignis wie der Verlust eines nahen Menschen alles Alltägliche tauchen kann.
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