Kritik zu Die Tränen meiner Mutter
Auf der Flucht vor der argentinischen Militärjunta landet Alex mit seinen Eltern im West-Berlin der achtziger Jahre. Regisseur Cardenas-Amelio erzählt in seinem Debüt von brüchigen Idyllen und einer schmerzhaft scharfkantigen Wirklichkeit
Wer einmal versucht hat, in Buenos Aires über eine größere, also mindestens zehnspurige Straße zu gehen, weiß, wie wirkliches Abenteuer schmeckt. Nur die wenigsten Ausländer schaffen es beim ersten Anlauf. Und diejenigen, die einen zweiten wagen, pressen mitgenommene Kinder und Haustiere an sich und schließen die Augen, in der Hoffnung, dass die hupende Blechbrandung nicht ihr letztes Bild sein möge. Für einen Porteño jedoch, wie sich die Einheimischen stolz nennen, ist dieser Tsunami aus verbeulten Lieferwagen, schwarzen Abgaswolken und enthemmten Busfahrern das wahre Elixier ihrer Stadt der Städte.
Carlos ist ein Porteño. Seitdem der Grafiker vor der argentinischen Militärjunta mit seiner Frau Lizzy (Erica Rivas), einer Journalistin, ins Ausland flüchtete, ist er das sogar noch viel mehr. Die Umstände haben ihn ins West-Berlin der achtziger Jahre gespült. In eine Fabriketage in Schöneberg und mitten in eine zusammengewürfelte WG. Eines Tages will Carlos mit seinem Sohn Alex nachts auf dem Motorrad über die »Avenida 9 de Julio«, die größte Straße der Welt, sausen. So wie es alle Väter dort mit ihren Kindern machen. Erst dann könne Alex verstehen, warum sein Vater in Berlin, auf dieser mauergesäumten dunklen Insel, nie richtig wach zu werden scheint.
Aus dem Stoff könnte schnell eine folkloristische Version des heimatverbundenen, aber trotzdem coolen Fremdlings werden, doch der Regisseur, Sohn eines Peruaners und einer Argentinierin, hat den klugen Einfall gehabt, die Sehnsucht nach der Heimat im Blick von Carlos' Sohn Alex (Adrian Goessel) mehrfach zu brechen. Alex ist der deutsch wie spanisch sprechende Erzähler, und es macht dabei eine Menge aus, ob er auf Augenhöhe der Traurigkeit seiner Eltern begegnet oder ihren Tangotanz nach einem geselligen Abend im stolzen Kinderblick überhöht. Da Alex zudem fest an sein Talent glaubt, Dinge mit dem bloßen Willen bewegen zu können, nimmt sein Erinnerungsfilm, sein neurotischer Roman, wie Freud die fantastischen Konstruktionen der adoleszenten Erinnerungen einst nannte, noch eine zusätzliche Magie an. Wenn er seiner Mutter das Salz nur kraft seiner Gedanken reicht, ist das die Entdeckung einer ebenso heimlichen wie ungeheuerlichen Potenz im Leben des Pubertierenden. Auch den Betrug des Vaters wird er mit dieser Macht ans Licht zerren, wenn er die Dunkelkammertür allein mit einem festen Blick aufstößt.
Auf den ersten Blick mag der Film als schmale Geschichte vom Erwachsenwerden erscheinen; so schmal, dass man sie vielleicht auch in der halben Zeit hätte erzählen können. Tatsächlich liegt der Zauber von »Die Tränen meiner Mutter« weniger im Plot als vielmehr in seiner rührenden Vertrautheit mit dem eigenen Sujet. Das macht aus dem Erstling einen Film, der sich in den heiligen Festungen jugendlicher Innerlichkeit wunderbar auskennt und es versteht, dies geschickt mit den Brandmauern erwachsener Verzweiflung und Heimatlosigkeit zu verzahnen. Und außerdem braucht es eben eine Weile, bis man unfallfrei über die Zehnspurigkeit eines neuen Lebensabschnitts findet.
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