Kritik zu Die Summe meiner einzelnen Teile
Thoreau revisited: In Hans Weingartners nüchterner Sozialstudie treiben psychische Probleme einen Mathematiker erst in die Gosse und dann in den Wald
Ein Mann allein im Wald, bärtig, nackt, mit ausgebreiteten Armen und entrücktem Gesichtsausdruck. Die Kamera umkreist ihn, überhöht den Moment zur pathetischen Naturerfahrung. Dann lässt er sich fallen, nach hinten, ins Nichts, denn mitten in der Bewegung schneidet der Film – von der Feld- und Wiesenromantik hinein in die moderne Wirklichkeit, von Freiheit und Offenheit direkt in die metallene Enge eines Krankentransporters.
So beginnt Die Summe meiner einzelnen Teile, der neue Film des Österreichers Hans Weingartner: mit harten Kontrasten und irritierenden Wechseln, die uns völlig im Unklaren lassen über Raum und Zeit und deren Korrelation. Später werden sich die beiden Momente wiederholen, das grüne Idyll und die triste Krankenhauseinlieferung, aber auch wenn die Bezüge dann deutlicher werden, bleibt die Chronologie doch im Ungefähren. Was Ursache und Wirkung ist, wo Anfang und Ende, das bleibt rätselhaft.
Die überraschend raffinierte Struktur passt zum Sujet der psychischen Desorientierung, mit dem Weingartner hier an seinen Erstling Das weisse Rauschen anknüpft. Der Mann im Wald heißt Martin Blunt (stark: Peter Schneider) und ist Mathematiker: ein hochbegabter Zahlenautist, dem irgendwann die Sicherungen durchgeknallt sind. Nach Monaten in der Psychiatrie gibt es für ihn kein Zurück ins alte Leben. Seine Freundin (in dieser Rolle verschenkt: Julia Jentsch) hat einen anderen, sein Chef mag ihn nicht mehr beschäftigen, und so gerät Martin in eine schwindelerregende Abwärtsspirale. Im Marzahner Plattenbau überlässt er sich der Gleichgültigkeit und dem Alkohol, er landet auf der Straße, sammelt Pfandflaschen und übernachtet in schäbigen Abbruchhäusern. Gemeinsam mit dem ukrainischen Halbwüchsigen Viktor (Timur Massold) entflieht er schließlich dem grauen Großstadtmoloch gen Brandenburger Ödnis und errichtet dort eine »Hütte im Wald«, so der Arbeitstitel, und verwirklicht eine kurzlebige Aussteigerutopie, back to the roots, back to the woods.
Weingartner war noch nie ein Regisseur der Zwischentöne; in Die fetten Jahre sind vorbei streckte er dem Kapitalismus die Zunge raus, in »Free Rainer« zeigte er dem Privatfernsehen den Mittelfinger. Hier nun erweist er sich vollends als plakativer Sozialkritiker, der den gesellschaftlichen Missständen einen allerdings recht unausgegorenen Lebensentwurf à la Thoreau gegenüberstellt. Dass Martin und Viktor, die eine durchaus anrührende, nahezu sprachlose Freundschaft entwickeln, in den ostdeutschen Wäldern glücklich geworden wären, wenn die böse Außenwelt sie einfach sich selbst überlassen hätte, mag der Film dann doch nicht behaupten. Er mischt düsteren Realismus mit eskapistischen Träumereien und trotzigem Revoluzzergestus – was mal mehr und mal weniger stimmig ineinandergreift. Leider hält Weingartners Drehbuch eine ganze Wundertüte von Zufällen parat, die den Plot recht unvermittelt in neue Richtungen driften lassen. Wenn es mal gar nicht weitergeht, zieht man halt einen Brief aus dem Mülleimer, da wird schon drinstehen, an wen man sich als Nächstes wenden muss.
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