Kritik zu Die Sprache des Herzens
Die wahre Geschichte der taubblinden Marie Heurtin und ihrer Lehrerin böte viel Anlass für Pathos und Sentimentalität, Jean-Pierre Améris (»Die Anonymen Romantiker«) hingegen hat ein kleines Meisterstück filmischer Einfühlsamkeit gedreht
Für Schwester Marguerite (Isabelle Carré) ist es Liebe auf den ersten Blick. Unwiderruflich ist es um sie geschehen, als sie Marie (Ariana Rivoire) zum ersten Mal sieht. »Heute bin ich einer Seele begegnet«, vertraut sie ihrem Tagebuch an, »einer kleinen, zerbrechlichen Seele. Sie hat auf mich gewartet, gefangen in der Finsternis und Stille.« Aus ihrem Gefängnis kann sie diese Seele nicht befreien. Ihr Leben darin jedoch erträglicher, reicher zu machen, ist eine Aufgabe, die Marguerites Herz erfüllen wird.
Für Marie hingegen beginnt die Liebe mit einer Berührung. Zunächst wehrt sie sie heftig ab, denn das taubblinde Mädchen nimmt jede Berührung als eine Bedrohung wahr. Ihre Eltern wollen das wilde Kind, sichtlich schweren Herzens, in die Obhut des Instituts von Larnay geben, das sich der Erziehung taubstummer Kinder widmet. Die sanfte Beharrlichkeit, mit der Marguerites Hand nach der ihren sucht, lässt Marie langsam Vertrauen fassen. Sie ertastet deren Gesicht. Spürt sie schon, dass sie in ihr eine Verbündete gefunden hat?
Die Mutter Oberin weist das Gesuch von Maries Eltern ab, denn wie kann man einer Blinden die Zeichensprache der Taubstummen beibringen? Widerwillig gibt sie Marguerites Drängen nach, das Mädchen zu betreuen; zumal die glühende Idealistin damit ein lebensbedrohliches Risiko eingeht, denn sie leidet an Schwindsucht. Jean-Pierre Améris widmet seine Filme gern Figuren, deren Zugriff auf die Welt verstellt ist. In Die Anonymen Romantiker hat er vor vier Jahren im komödiantischen Register vom Herantasten an das Leben erzählt. Sein neuer Film beruht auf einer wahren Begebenheit aus den 1890er Jahren und steht in der Tradition von Arthur Penns Licht im Dunkel und François Truffauts Der Wolfsjunge, die von unermesslich mühevollem Spracherwerb erzählen. Er ist als taktvoller Überschwang der Sinneserfahrungen inszeniert: jener, die Marie erlebt, und jener, die ihr verwehrt sind. Améris verleiht der erzieherischen Hingabe einen romantischen Zug: Die Sprache des Herzens handelt vom Eröffnen von Möglichkeiten. Die Aufzeichnungen der Schwester Marguerite über ihre Begegnung mit Marie Heurtin adaptiert er mit platonischer Doppeldeutigkeit. Das Glück der ersten Berührung ist der Auftakt einer unbändigen Zärtlichkeit. In ihr regt sich kein erotisches Begehren. Die Ordensschwester ist seit Ablegen ihres Gelübdes einem Anderen versprochen, und für Marie bedeutet die innige körperliche Nähe eine Teilhabe an der Welt. Gleichwohl verstößt ihre Liebe gegen Konventionen. Sie ist ein Machtkampf, diese zwei werden einander Enttäuschungen bereiten und Geduld lehren.
Wie viele Liebesgeschichten im Kino handelt auch diese von Zähmung. Marie leistet erbitterten Widerstand. Nie zuvor wurden ihre Haare gekämmt, musste sie Schuhe tragen oder ein Kleid anziehen. Der Versuch, ihr im Refektorium das Essen mit einem Löffel beizubringen, endet in einem Tumult. In den ersten Monaten machen Marguerite und ihr Schützling keine Fortschritte. Die Montage des Films trägt dieser Entmutigung gewissenhaft Rechnung, ohne den Zeitfluss zu verdicken. Alles darf hier zur rechten Zeit geschehen. Das kleine Taschenmesser, das Marie seit frühester Kindheit als Talisman mit sich führt, wird schließlich zu einem Instrument des Spracherwerbs. Wie sie die Gebärde erlernt, es zu benennen, inszeniert Améris als veritablen Suspense. Es wird zur Zündung einer Explosion der Sprache.»Du hast gute Arbeit geleistet«, sagt die strenge Oberin am Ende zu Marguerite. Das stimmt zur Hälfte. Denn dass dies ein wechselseitiger Lernprozess war, bleibt im Film keine gönnerhafte Behauptung. Zwei Menschen haben durch ihr Gegenüber eine neue, fremde Welt entdeckt. Die beiden Hauptdarstellerinnen stehen großartig dafür ein.
Die letzten Jahrzehnte ihres Lebens, klärt uns ein Abspanntitel auf, verbrachte Marie Heurtin als eine begeisterte Leserin und war unschlagbar im Dominospiel. Aus der kleinen, zerbrechlichen Seele wurde eine robuste, weise Seele.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns