Kritik zu Die Linie

Die Familie und der filmische Raum bilden die Koordinaten des Kinos von Ursula Meier. In ihrem dritten Langfilm vermisst sie beide neu. Eine Bannmeile wird um das Haus errichtet, in dem eine junge Frau ihre Mutter attackierte

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Zu Beginn steht die Welt Kopf. Die Per­spektive der Kamera ist um 180 Grad gekippt. Archaische Gewalt bricht jäh in den Haushalt einer offenkundig kultivierten Familie ein. In Zeitlupe wirbeln CDs, Schallplatten, Klavierauszüge, Blumen und eine Vase durch die Luft. Zwei Frauen gehen wie Raubtiere aufeinander los. Ihre Schreie hört man nicht, die Tonspur ist mit sinfonischer Musik belegt. Ein Mann versucht, die zwei zu trennen, aber das Chaos bekommt er nicht in den Griff. Was ist der Auslöser ihres Handgemenges, das erst endet, als die Ältere mit dem Kopf auf ein Klavier stürzt? 

Margaret (Stéphanie Blanchoud) hat ihre Mutter Christina (Valeria Bruni-Tedeschi) angegriffen, wohl nicht zum ersten Mal. Vielleicht war sie deren ewige Vorwürfe leid: dass sie wegen der Erstgeborenen ihre vielversprechende Karriere als Konzertpianistin aufgeben musste und dass die Tochter ihr vererbtes Musiktalent vergeudet. Ein Richter verhängt ein Kontaktverbot für drei Monate, in denen Margaret mindestens 100 Meter Abstand zu ihrer Mutter halten muss.

Die kleine Halbschwester Marion misst mit einem Seil den Radius der Bannmeile aus und markiert sie mit hellblauer Farbe. Es ist eine Maßnahme des Entgegenkommens. Margaret, die von Gelegenheitsjobs in der Nachbarschaft lebt, respektiert die Linie fortan tatsächlich, belagert nun aber das Haus, um Marion gleich dahinter Gesangsunterricht zu geben. Die Abstandsverordnung folgt mithin weniger einer juristischen als einer filmischen Logik der Sichtweite. Diese schillert, mal scheint das Zuhause ganz nah und dann wieder unerreichbar.

Prägnante Topographien sind ein Markenzeichen von Ursula Meier, die enge Verbindungen zwischen der Zerrissenheit von Familien und der Beredsamkeit der Schauplätze zu knüpfen weiß: In »Home« verharrt der Campingwagen neben der Autobahn, in »Winterdieb« trennt eine Seilbahn die sozialen Sphären. Das emotionale Territorium wird dadurch nicht übersichtlicher. Die Verschlingung von Wut und Sehnsucht lässt sich in »Die Linie« nicht auflösen. Das Seil darf durchaus als Nabelschnur gelesen werden. Margaret fordert den matriarchalen Zusammenhalt heraus, über den Christina passiv-aggressiv gebietet. 

Bruni-Tedeschi stattet ihren Part  mit reichlich melodramatischem Überschuss aus; Blanchoud, die auch an Drehbuch und Soundtrack mitwirkte, bildet das eigentümliche Kraftfeld des Films, der jedes Familienmitglied ins Recht setzen will und sich dabei zuweilen im Wechsel der individuellen Perspektiven verliert. Blanchouds wehmütig-ruppige Ausstrahlung beglaubigt Margarets Lebenswut. Ihr Körperspiel ist roh und ungeschützt. Aus ihrer Angriffslust spricht auch ein Drang, sich zu bestrafen. Die Vieldeutigkeit weiblicher Gewalt ist eine Passion dieser belgischen Bühnenschauspielerin, die dem Boxen ein Soloprogramm gewidmet hat. 

Wird das Pensum von Austeilen und Einstecken weitergehen, wenn das Kontaktverbot nach Weihnachten ausläuft? Oder wird endlich Verständigung möglich sein? Margarets kleine Schwester zählt die Tage bis dahin.

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