Kritik zu Der Sohn der Anderen
Zwei junge Männer, ein Jude und ein Palästinenser, müssen feststellen, dass sie bei der Geburt vertauscht wurden. Der Französin Lorraine Lévy geht es in ihrem Film weniger um die politischen als um die persönlichen Fragen der brisanten Verwechslung
Ein Routinebluttest nach dem Schulabschluss und vor dem Eintritt in den Militärdienst erschüttert alle Gewissheiten der letzten beiden Jahrzehnte: Die Gene irren nicht, Joseph (Jules Sitruk), so stellt sich heraus, ist nicht das Kind seiner Eltern. Nachdem die naheliegenden Verdachtsmomente gegen die Mutter aus dem Weg geräumt sind, wird klar, dass Joseph bei der Geburt im Krankenhaus mit einem anderen Jungen vertauscht wurde.
Die Frage, ob die Gene ausschlaggebend sind oder doch eher Erziehung und Umfeld einen Menschen prägen, bekommt in solchen, im Kino gern verfilmten Fällen eine Tiefe, die über medizinische Fakten weit hinausgeht. Der Japaner Hirokazu Koreeda hat daraus in »Like Father, like Son« ein leises Drama gesponnen, um zwei Kinder im Alter von sechs Jahren und ihre Eltern. Der Franzose Étienne Chatiliez wiederum machte daraus 1988 in »Das Leben ist ein langer ruhiger Fluss« eine Kultur-Clash-Komödie um zwei Zwölfjährige herum, in der er die Stereotypen des französischen Familienlebens aufmischte: hier die arme, chaotische und glückliche, dort die wohlhabende, geordnete und gefühlsarme Familie. Nun zieht die Französin Lorraine Lévy die Schrauben noch ein bisschen stärker an, indem sie die Kinder volljährig und damit auch selbstverantwortlicher macht. Die ganz große Herausforderung für alle Beteiligten aber liegt darin, dass Joseph in einer jüdisch-israelischen Familie in Tel Aviv und Yacine in einer arabisch-palästinensischen in den besetzten Westbank-Gebieten aufgewachsen ist.
Trotzdem geht es Lévy in ihrem viersprachigen Film (hebräisch, arabisch, französisch, englisch) weniger um die politischen als um die menschlichen Implikationen. Der besondere Hintergrund macht diese Konstellation aber dennoch zu einem Crashkurs in Toleranz. Das könnte leicht konstruiert wirken, zumal die Regisseurin zwar Jüdin, aber keine Israelin ist. Vielleicht ist aber auch genau das der Grund, dass sie sich auf dem verminten Gelände sehr behutsam und umsichtig bewegen kann. Mit der beratenden Unterstützung durch das vor Ort zusammengestellte Team nahm sie täglich leichte Nachjustierungen vor und konzentrierte sich ansonsten auf ein nuancenreiches Schauspielerensemble.
Besonders die Väter hadern mit der Situation, die Jungs gehen dagegen neugierig aufeinander zu, was nicht nur durch ihre Jugend erleichtert wird, sondern auch, weil sie nicht besonders stark politisch geprägt sind. Während Joseph am liebsten Musiker werden möchte, steht Yacine vor einem Medizinstudium in Paris, das heißt die Brisanz der Konstellation ist entschärft, auch wenn sie trotzdem komplizierte Identitätsfragen aufwirft: »Bin ich noch jüdisch?«, fragt Joseph, »müssen wir ihn jetzt hergeben?« seine kleine Schwester. Und »Welchen Sinn macht das?« fragt sich Yacine, während sein Bruder empört vor allem daran denkt, dass er nun plötzlich den Feind im eigenen Nest hat. Während die Männer zur Abgrenzung tendieren, sehnen sich die Frauen nach Zusammengehörigkeit. Statt einen Sohn zu verlieren, schließen sie einen zweiten ins Herz.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns