Kritik zu Der See der wilden Gänse

© eksystent distribution

2019
Original-Titel: 
Nan fang che zhan de ju hui
Filmstart in Deutschland: 
27.08.2020
L: 
113 Min
FSK: 
16

Ein Gangster auf der Flucht: Sechs Jahre nach seinem Berlinale-Gewinner »Feuerwerk am hellichten Tage« legt der chinesische Regisseur Diao Yinan erneut einen modernen Film noir vor

Bewertung: 3
Leserbewertung
4
4 (Stimmen: 1)

In der ersten Szene seines neuen Films »Der See der wilden Gänse« setzt Diao Yinan den Ton für alles Folgende, ästhetisch wie atmosphärisch. Unter einer nächtlichen Bahnüberführung harrt da eine einsame Gestalt aus; wer dieser Mann ist und worauf er wartet, bleibt zunächst unklar. Es regnet in Strömen, der urbane Unort aus Betonpfeilern, Treppenaufgängen und Reklametafeln ist in fahles Licht getaucht. Dann erscheint eine Frau in einem leuchtend roten Pullover, in der Hand einen transparenten Regenschirm. Während ringsum der Regen prasselt, fragt sie den wartenden Mann erst nach Feuer, dann nach seinem Namen. Es entspinnt sich ein Dialog von elegischer Langsamkeit. Die Atmosphäre erinnert an klassischen Film noir, und wären die Schauspieler keine Asiaten, würde man die Szene eher in einem Randbezirk von Los Angeles verorten. 

Diese Mischung aus atmosphärischer Verdichtung und inhaltlicher Rätselhaftigkeit, aus rigorosem Stilwillen und einem Spiel mit Noir-Motiven prägt den gesamten Film. Der Name des wartenden Mannes ist Zhou Zenong, er ist ein professioneller Motorraddieb in der Millionenstadt Wuhan. Auf der Flucht vor einem Rivalen hat er versehentlich einen Polizisten erschossen, nun wird er gejagt. Kann es da Zufall sein, dass die Frau in Rot mit ihrem Kurzhaarschnitt und der Zigarette an Jean Seberg in »Außer Atem« erinnert? 

Diao Yinan weckt solche Assoziationen, ohne dass es forciert wirkt, im Gegenteil: das Reizvolle an seiner Inszenierung ist scheinbare Zufälligkeit der Bezugspunkte. Er stellt sein Genrebewusstsein nicht aus, ist kein eitler ­Geek, sondern ein urbaner Poet des Beiläufigen. Sein Stil erinnert an den frühen Wong-kar Wai – mit dem bedauerlichen Unterschied, dass einen das Schicksal von Yinans Figuren seltsam kalt lässt. Die Charaktere bleiben abstrakt, ihr Handeln undurchschaubar und widersprüchlich. Obwohl Zhou von Gangstern und Polizei gejagt wird, stellt sich kaum eine konventionelle Form der »Spannung« ein. Es gibt eine nächtliche Polizeirazzia in einem Zoo, wo à la Terrence Malick die Blicke der Tiere einen Kontrast zum angespannten Gewusel der Menschen bilden; oder einen Einsatz in einer Open-Air-Disco, wo Undercover-Cops zu Hits von Boney M. und Dschingis Khan tanzen, bevor sie einen Gangster zur Strecke bringen. Aber auch diese kunstvoll choreographierten »set pieces« dienen Diao Yinan vor allem als Rahmen für ein Spiel mit vertrauten Mustern. Das Wer und Warum bleibt letztlich bedeutungslos.

Stattdessen sind es die flüchtigen Momente, die der Fluchtgeschichte eine lyrische Faszination verleihen. Details wie ein kleines Tauben-Tattoo auf Zhous Hand, das auf eigentümliche Weise mit einer Verletzung auf seiner Wange korrespondiert; ein nostalgischer Imbisswagen, der zwischen Beton und Neon wie eine warm beleuchtete Oase anmutet. Überhaupt spielen Licht und Lichtquellen eine zentrale Rolle. Die Randbeleuchtungen eines Tunnels, die Scheinwerfer von Motorrollern in der Nacht, Lichtreflexe auf einem See, blinkende Turnschuhe auf einer Open-Air-Tanzfläche – aus den Lichtern entwickelt sich hier ein ganz eigener Kosmos, surreal und hyperrealistisch zugleich.

Das schrammt zuweilen nur haarscharf am Manierismus vorbei, aufgefangen vor allem von Yinans Gespür für den Unterbauch der chinesischen Arbeitergesellschaft. Mit beinahe dokumentarischem Gestus führt er den Zuschauer beiläufig durch Hinterhofwerkstätten, Noodle Shops und vorstädtische Vergnügungsparks. Mehr Schärfe als die Katz-und-Maus-Spiele haben die Darstellungen von Machismo, sexueller Gewalt und euphemistisch verbrämter Prostitution. Diese Szenen hallen am stärksten nach. Der Schluss gehört denn auch zwei Frauen, die melancholisch durch die Straßen der Stadt laufen. Erst jetzt begreift man, dass es Yinan im männlich geprägten Genre des Noir nicht um Räuber und Gendarme ging, sondern um das Schicksal der Frauen am Rande. Eine schöne Pointe, leider kommt sie zu spät.

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