Kritik zu Der große Crash – Margin Call

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Vielleicht kann man von der Finanzkrise nur so erzählen: In Form eines kompakten, pointierten Independentfilms mit Schauspielern, die weniger Glamour als Professionalität ausstrahlen. J. C. Chandor komprimiert in seinem erstaunlichen Kinodebüt »Margin Call« den Hypothekencrash von 2008 in einer einzigen heißen New Yorker Nacht

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Was ist ein Margin Call? Mal sehen, ob wir das als blutige Laien einigermaßen zusammenbekommen: »Trader« im Investmentbusiness bekommen von den »Brokern« Kapital, um mit Finanzpapieren, Terminkontrakten oder Devisen zu handeln. Um eine Sicherheit zu haben, muss der Trader eine Summe hinterlegen, den Margin Account, der in der Regel bei bis zu einem Prozent des zur Verfügung gestellten Kapitals liegt. Wachsen indes die drohenden Verluste des gehandelten Papiers über die Summe des Margin Account, kann der Broker verlangen, dass die Sicherheitssumme erhöht wird. Was dramatisch werden kann, wenn man sich in Richtung auf einen Totalverlust bewegt. Das ist der Margin Call, der immer mal wieder den GAU in einem Risikounternehmen bedeutet. Kann der Trader nämlich nicht sofort das entsprechende Kapital nachschießen, wird die Handelsposition geschlossen. Und wenn das nicht nur eine Firma betrifft . . .

2008, New York. Ein Investment-Unternehmen wird dem üblichen Re-Engineering unterzogen. Die dafür zuständige Crew von knallharten Spezialisten sortiert eiskalt Angestellte aus, Anfänger ebenso wie verdiente Mitarbeiter der Firma, und mit einer Mischung aus Bangen und Hoffen verabschieden die Zurückgebliebenen die Opfer, darunter den Top-Risk-Analysten Eric Dale (Stanley Tucci). Dale war gerade mit einer Analyse der augenblicklichen High-Risk-Situation beschäftigt; nichts darf er mitnehmen von seinem Wissen, nichts davon ist noch von Interesse; sogar sein Diensthandy wird abgeschaltet.

Doch es gelingt dem Gefeuerten, die entsprechenden Informationen auf einem Datenstick seinem jungen Mitarbeiter Peter Sullivan (Zachary Quinto) zuzustecken, einem Quereinsteiger in die Finanzwelt, der als gelernter Raketenbauer ein Mathematikgenie ist und entsprechend schnell erkennt, was er da für ein brisantes Material auf den Schirm geladen hat: Der todsichere Untergang der Firma ist keine Frage von Wochen, sondern von Stunden. Aus »hochriskanten« sind mehr oder weniger wertlose Papiere geworden, und wenn der Margin Call kommt, ist die Firma ruiniert: der Margin-Wert übersteigt bereits den Gesamtwert des Unternehmens. Es gibt nur die Alternative, entweder durch den eigenen Bankrott eine Krise auszulösen oder sich auf Kosten anderer in Sicherheit zu bringen, und die Krise damit zu beschleunigen und zu verstärken.

Noch in der Nacht versammelt sich nach und nach die Firmenleitung. Deren Repräsentanten stammen aus der Typenlehre des Finanzgeschäfts: Paul Bettany als der »Lead Trader« Emerson, der das schnelle Leben und den Kitzel des Risikos liebt, Kevin Spacey als Sullivans Vorgesetzter Rogers, der sich viel darauf zugutehält, wie er seine Mitarbeiter zu motivieren versteht (und der in seinem Privatleben, längst geschieden und allein, um seinen Hund trauert, möglicherweise wirklich sein einziger Freund); Simon Baker als Cohen, der klassische Blender-Manager, der sich die Verdienste seiner Mitarbeiter unter den Nagel reißt, und Demi Moore als Sarah Robertson, Leiterin der Risikoabteilung, das weibliche Gesicht der Szene, halbverhärtete Powerfrau und selbst schon zum Opfer erkoren. Die verschiedenen Charaktere zwischen Karrieresucht, Luxus, Zynismus und Restskrupeln funktionieren pyramidal: Unten gibt es Sachverstand, in der Mitte Delegationsgeschick, oben nur den blanken Willen zur Macht und zum Profit. Dort herrscht Jeremy Irons als gutgekleideter Konzernchef John Tuld, der eloquente Geist des Neoliberalismus: Vielleicht einer der kalten Götter der Wall Street, die ihr System mit shakespearianischen Sprüchen von der ewigen Kraft der Geldmetaphysik erklären, oder, wie alle anderen, auch nur einer, der seine Rolle spielt. Von Tuld jedenfalls kommt der Plan, wie der Katastrophe zu entgehen sei, nämlich durch einen blitzschnellen Verkauf der toxischen Papiere an die Konkurrenz.

Der Thrill dieses Kammerspiels besteht darin, zu verfolgen, ob und wie sich die Mitarbeiter in diesen Plan einspannen lassen, der über Nacht ein Segment der Finanzwirtschaft in den Ruin führen wird. Selbst Eric Dale wird zurückgeholt. Am nächsten Morgen wird die Krise beginnen, die vielen Menschen den Job, die Zukunft, die Hoffnung nehmen wird. Und New York ist immer noch eine schöne Stadt.

Anders als Oliver Stone in seinem zweiten »Wall Street«-Film »Money Never Sleeps« sucht J. C. Chandor die Krise nicht in einer faszinierend-bösen Gestalt zu erklären. Da er die Welt der Finanzmakler von seinem Vater, der bei Merril Lynch arbeitete, her kennt, balanciert der Regisseur zwischen »System« und »Charakter«: Tatsächlich ist es erst einmal überraschend, im Zentrum der gewaltigen Katastrophe ganz normale Menschen zu sehen, die sich irgendwie verhalten müssen, weil sie mit dem Rücken an der Wand stehen, und die es so tun, wie wir erwarteten. Es gibt Punkte in der Geschichte dieser vierundzwanzig Stunden, in denen aus der Krise einer Firma die Krise eines Systems wird, in denen man erwartet, nun würde sich die moralische und psychische Spannung in einem persönlichen Drama entladen.

Für einen Augenblick scheint es wahrscheinlich, dass sich einer vom Bürohochhaus stürzt, dass ein anderer seinem fiesen Chef beim Rasieren im Waschraum die Kehle durchschneidet, dass jemand »Nein« sagen und sich der Macht von Tuld entgegenstellen würde. Nichts davon geschieht. Das nämlich ist die eigentliche Katastrophe, dass es immer so weitergeht, dass die Menschen mitmachen, die Leute wie du und ich sind. Und die bitterste Pointe ist: Je mehr Skrupel einer anfänglich zeigt, desto perfekter spielt er am Ende seine Rolle im großen Betrugs- und Zerstörungsszenario.

In diesem Film wird niemand aufgerüttelt, schockiert oder »betroffen gemacht«. Man bleibt in mittlerer Distanz, Montage und Musik verzichten entschieden darauf, das Geschehen dramatisch aufzuheizen. Und es geht um Menschen, die offenbaren, dass sie ganz gewiss nicht wegen charakterlicher Tiefe und moralischer Ambivalenz ins Bankgeschäft gegangen sind, aber schiere Charaktermasken sind sie genau so wenig.

Frank G. DeMarcos Kamera – er hat bei »Mad Men« Erfahrungen sammeln können, wie man geschlossene Bürowelten visuell aufschließt – zeigt zwischendrin immer wieder den endlos schönen Körper des Eilands Manhattan. Aber da scheint eine unsichtbare Wand zwischen den Menschen und der Welt, das Kapital ein Würgeengel, der sie nicht aus ihrem Gefängnis entlässt. Das ist nicht weniger gespenstisch als der verlorene Kampf der Menschen um die Kontrolle ihres Systems: »Die Maschine, von der sie ein Teil sind, ist derart groß und komplex geworden, dass niemand die zerstörerische Macht begreifen konnte, die von ihr ausging. Bis es zu spät war«, sagt J. C. Chandor. Weniger freundlich kann man es auch umgekehrt sagen: Die Menschen, die eine solche Maschine bedienen, sind so beschränkt, trivial und charakterlos, dass die Katastrophe unausweichlich wird. Man denkt sich so was schon, aber sehen können wir blutigen Laien nur im Kino, was ein Margin Call aus gewöhnlichen Menschen machen kann. Noch gewöhnlichere Menschen.

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