Kritik zu Denk ich an Deutschland in der Nacht
Der Beat ist der kleinste gemeinsamer Nenner: Romuald Karmakar liefert in seiner neuen Dokumentation zur deutschen Technoszene Einblicke in deren Geschichte, Selbstverständnis und Werdegang
Gleich zu Beginn ist Filmemacher Romuald Karmakar mittendrin im Kreativzentrum: Da sitzt Ricardo Villalobos wie ein Kapitän in seinem raumschiffähnlichen Studio, überall flackern kleine LEDs in mannshohen Techniktürmen, Kabel schlängeln sich von A nach B und ins Ungewisse, Monitore auf den Tischen, rechterhand zwei an Trompetenblumen erinnernde Boxen. Im Zentrum der Kommandobrücke der Maestro, er hört sich mit infantiler Freude die neueste Vinylerrungenschaft an. »Wow, die Platte ist aus den Siebzigern«, grinst er in die Kamera, »krass!«.
Karmakar ist seit Jahren als Feldforscher in der Techno- und Elektroszene unterwegs und widmete Villalobos bereits 2009 eine Dokumentation (»Villalobos«), die zugleich den letzten Teil seiner lose verknüpften »Club Land Trilogie« bildete. Vorangegangen waren »196 bpm« (2002), eine Momentaufnahme der Berliner »Love Parade« 2002 in drei Plansequenzen und »Between the Devil and the Wild Blue Sea« (2005) über diverse Liveauftritte von Bands aus der internationalen Elektroszene.
Und jetzt eben »Denk ich an Deutschland in der Nacht«, der in der Sektion Panorama auf der Berlinale Weltpremiere feierte und damit passenderweise in der deutschen Stadt, die für die Szene essenziell war und nach wie vor ist. Denn Berlin löste Frankfurt nach dem Mauerfall als deutsche Techno- und House-Hauptstadt ab und bot mit seinen vielen Leerständen reichlich Platz für den Raverschweiß der Nation und den katapultartigen Start der neuen Subkultur. Villalobos und seine Kollegen Ata, Roman Flügel, Sonja Moonear und David Moufang (Move D), die im Film alle zu Wort kommen, waren aktiv dabei.
»Denk ich an Deutschland in der Nacht« ist allerdings keine schnöde Rekapitulation der deutschen Technogeschichte – es gibt keine Offkommentare, keine Erklärungen, nicht einmal die Protagonisten werden vorgestellt –, sondern vielmehr ein kontrastreicher, mehrstimmiger Bewusstseinsstrom aus Musik und Erzählungen, von Frank Griebe (»Lola rennt«) eingefangen in langen Einstellungen. Zwischen den Aufnahmen von Clubnächten und der Arbeit in ihren Studios plaudern die sympathischen Nerds aus dem Nähkästchen über ihren Werdegang, die Musik und den Wandel der Szene durch Globalisierung und Digitalisierung. Das gestaltet sich in einigen wenigen Momenten zäh, gerade dann, wenn der Regisseur doch einmal nachfragen muss. Aber durch eben diese Ruhe konnte die wunderbarste Szene des Films erst entstehen: Da steht David Moufang wie eine Figur aus Caspar David Friedrichs Gemälden auf einem Hügel mitten im Grünen und monologisiert zehn Minuten lang. Er redet über seine Kindheitsangewohnheit, dem melodiösen Rauschen der Zugluft unter dem Türspalt zuzuhören, seinen unerfüllten Wunsch, Astronaut zu werden, bis er schließlich bei der Kosmologie und dem Wechselspiel von Musik, Naturwissenschaften, Theologie und Philosophie landet.
Ob die fünf Protagonisten nun moderne Romantiker sind, wie der Filmtitel in Anlehnung an die »Nachtgedanken« des romantischen Dichters Heinrich Heine vermuten ließe, sei dahingestellt. Fest steht: Denkt ein Techno-DJ an Deutschland in der Nacht, geht es in erster Linie darum, die Nacht zum Tag zu machen und für ekstatische Höhenflüge zu sorgen. Wie das konkret aussieht, zeigen die Clubszenen mit den schwitzenden Ravern, mit Strobolichtern und Visuals. Dort schaut die Kamera den Musikhandwerkern über die Schulter, und Karmakar lässt uns bei der Produktion eines Live-Sets mithören: Wie schon in »Villalobos« wird gelegentlich der Kopfhörersound der DJs ausgegeben, wodurch man Ohrenzeuge des sogenannten »Beatmatchings« wird, also des rhythmischen Zusammenkittens zweier Songs. Damit ist der Film im Kern der Technomusik, denn, Villalobos fasst es weise zusammen, der gleichbleibende Beat ist der niedrigste Wert, bei dem sich die »Party als Wertegemeinschaft« trifft. Sicherlich macht es Karmakars offene Erzählweise insbesondere »Außenstehenden« nicht leicht, einen Zugang zu finden. Aber hier geht es auch nicht um einen systematischen Erkenntnisgewinn, sondern um die Leidenschaft für die Musik, die »Denk ich an Deutschland in der Nacht« mit kontemplativen Bildern und innerer Ruhe filmisch einfängt.
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