Kritik zu Das Tier im Dschungel
Es muss eine der verblüffendsten Filmideen dieses Jahrzehnts sein, Henry James' gleichnamige Novelle in einem Nachtclub anzusiedeln: Lebensvermeidung im Wechsel der Disco-Moden
In diesen Film zu gehen, ist in etwa so, als würde man eine Abendeinladung annehmen, von der man nicht weiß, was sich hinter ihr verbirgt. Er schürt hohe, aber unbestimmte Erwartungen, steckt voller Rätsel (unter denen das Größte sein Gelingen ist). Auch die Frage nach vergeudeter Zeit stellt sich bang. Aber das ist nicht der Makel von Patric Chihas Film, sondern sein Thema.
Henry James' Novelle über ausgeschlagene Leben verlegt er in einen Pariser Nachtclub, der noch keinen Namen hat, aber schon angesagt ist. 1979 begegnen sich hier John (Tom Mercier) und May (AnaÏs Demoustier) nach zehn Jahren wieder. Der junge Mann, der partout nicht tanzen will, kann sich zunächst nicht an ihr erstes Treffen erinnern. Die lebenslustige Frau schluckt die Kränkung, nicht erkannt zu werden. Sie lässt sich auf das lebhafte Treiben in der Disco ein, kann sich zugleich aber nicht von dem wiedergefundenen Fremden lösen. Damals vertraute er ihr sein Geheimnis an. Er ist davon überzeugt, dass ihm einmal etwas Großes, Absolutes widerfahren wird – vielleicht eine Katastrophe, auf die er aber warten muss.
Das puritanische Bekenntnis, sich aufzubewahren, »rein« zu bleiben, könnte lächerlich wirken inmitten des lärmenden hedonistischen Treibens der Disco. Immerhin besteht das Risiko, dass John nicht der melancholischste, sondern der langweiligste Mensch an diesem Ort ist. Aber Chiha und seine Darsteller finden das richtige Timbre für diesen Moment. Mercier ist in der Rolle des Mannes ohne Freunde und Leidenschaften eine ähnlich abstrakte, symbolische Präsenz wie in Nadav Lapids »Synonymes«, der 2019 auf der Berlinale den Goldenen Bären gewann und Mercier als Schauspieler bekannt machte. Demoustier wächst in die aristokratische Aufmerksamkeit hinein, welche die Novellenfigur von Anfang an hat. Ein Pakt von fragiler Magie wird geschlossen; Kamerafrau Céline Bozon legt einen mal sachten, mal nachdrücklichen Weichzeichner über die Szenerie.
John stiftet May an, bloße Zuschauerin des Lebens zu sein. Gemeinsam werden sie zu Zaunzeugen der historischen Umbrüche (dem Wahlsieg Mitterands, dem Mauerfall, schließlich dem Anschlag auf das World Trade Center) und der eigenen Biografie: Sie heiratet zwischendurch, und er beginnt eine Affäre mit der Garderobiere des Clubs, an der ihn allein die Aussichtslosigkeit reizt. Kaum je verlässt das Geisterpaar den Schauplatz – wenn doch, zeigt Chiha nur ihre Schritte – und scheint immer körperloser zu werden.
Der Regisseur gesteht dem Paar, das keines sein kann, seine Entrückung und Melancholie zu. Aber er weigert sich, diese zur Stimmung seines Films werden zu lassen. Er zelebriert das Leben, dem sie nurmehr beiwohnen, schaut minutenlang auf die Tanzfläche, wo sich Selbstgefühl und Begehren fiebrig Bahn brechen. Als Türsteherin und Seele des Clubs gebietet Béatrice Dalle über das Getümmel. Ihre heisere, tiefe Stimme und ihr furchtlos verwittertes Antlitz verraten, das sie gelebt hat.
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