Kritik zu Dancing Pina
Weltweites Tanzen: Florian Heinzen-Ziob geht in seiner Beobachtung verschiedener Probenprozesse der Frage nach, wie Pina Bauschs Erbe lebendig gehalten werden kann
»Du bist zu vorsichtig. Hab keine Angst!« Wenn Malou Airaudo kleinste Bewegungen von Clémentine Deluy korrigiert, geht es um Präzision und Wahrhaftigkeit, nicht um technische Perfektion. Beide haben unter Pina Bausch getanzt, der 2009 verstorbenen Choreographin, die den Tanz als Kunstform auf unnachahmliche Weise prägte. Ihr Ensemble hält ihre Stücke weiterhin lebendig, führt sie in Wuppertal und Gastspielen weltweit auf, weiht neue Mitglieder ein. Zehn Jahre nach ihrem Tod soll nun mit Glucks »Iphigenie auf Tauris«, das Bausch 1974 als Tanzoper choreographierte, erstmals eine Inszenierung einem anderen Ensemble überlassen werden, dem Ballett der Semperoper Dresden. Unter künstlerischer Leitung von Clémentine Deluy, die die Iphigenie noch vor vier Jahren selbst getanzt hat, und mit der Unterstützung der 74-jährigen Malou Airaudo, die das Stück zusammen mit Pina Bausch vor fast einem halben Jahrhundert entwickelt hat. Fast zeitgleich entsteht an der École des Sables, einer Schule für afrikanischen Tanz im Senegal, eine Neueinstudierung von »Frühlingsopfer«, der legendären Choreographie von 1975, erstmals mit einem panafrikanischen Ensemble.
In seinem Dokumentarfilm »Dancing Pina« beobachtet Florian Heinzen-Ziob beide Probenprozesse, stellt Szenen an der Schule in Afrika jenen in der Essener Lichtburg, Pinas Probebühne, und der Semperoper gegenüber. Mit Fokus auf ausgesuchte Details wird in vielen Momenten klar, dass es durch das flüchtige Wesen des Tanzes auch immer um Erinnerungsarbeit geht, um ein Weitergeben an Erfahrungen, körperlichen und emotionalen. Mit bloßen Kopien würde das Material nur oberflächlich erhalten bleiben, aber die Essenz verloren gehen; Jorge Puerta Armenta, der gemeinsam mit Jo Ann Endicott das »Frühlingsopfer«-Projekt leitet, legt Wert auf »die echte Begegnung«.
Sich selbst finden und authentisch sein im Tanz, fällt vor allem den klassisch ausgebildeten Neuzugängen nicht immer leicht. Heinzen-Ziob gelingt eine faszinierende Studie eines künstlerischen Prozesses. Der Film lebt von Passagen, die selbst in der Probenphase tief berühren, und den Reflexionen der diversen Ensemblemitglieder, die den unmittelbaren Eindruck in einen Kontext setzen und vertiefen.
Vor allem »Frühlingsopfer« erweist sich als wegweisend, wie das Erbe Bauschs erhalten werden kann, ohne es zu musealisieren. Divers war das Ensemble bei Pina Bausch aber schon immer; sie selbst holte Tänzer*innen aus aller Welt nach Wuppertal, und auch wenn die Choreografien festgelegt sind, findet jede*r eine eigene Interpretation, durch den Körper, die Persönlichkeit.
Lange sieht man fasziniert zu, taucht ein in den intimen, hoch konzentrierten Probenprozess. Dann, wie aus dem Nichts die Hiobsbotschaft: Wegen Corona müssen alle geplanten Auftritte abgesagt werden. Das Ensemble in Senegal ist am Boden zerstört. Doch nichts ist umsonst. Am Ende tanzen sie das Frühlingsopfer am Sandstrand, bis die Sonne untergeht, nur für die Kamera, nur für uns. Flüchtig und doch unvergesslich.
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