Kritik zu Carré 35
In seinem ersten Dokumentarfilm spürt der Schauspieler Éric Caravaca einem Familiengeheimnis nach
Erstaunlich, wie viel nach all den Jahren noch erhalten ist von der Szenerie, in der sich diese verdrängte Geschichte zugetragen hat. Die Treppe vor dem Rathaus in Casablanca, auf der wir die frisch vermählten Eltern sehen, hat sich überhaupt nicht verändert. Auch die abweisende Mauer mit dem schwarzen Tor, hinter der die Familie einst lebte, steht noch. Das Fenster zum Hof, dem sich die Kamera regelmäßig mit banger Neugier nähert, ist immer noch vergittert. Sogar die Grabstätte Nummer 35, die erst nicht auffindbar ist, wird von unbekannten Händen gepflegt.
Der Schauspieler Éric Carava, aus Filmen von Patrice Chéreau und François Dupeyron sowie aus Theaterinszenierungen von Thomas Ostermeier bekannt, geht in seinem ersten Dokumentarfilm einem Geheimnis auf den Grund, das seine Eltern viele Jahrzehnte hüteten. Nie wurde zu Hause darüber gesprochen, dass er eine ältere Schwester hatte, die 1963 im Alter von drei Jahren an Blausucht starb, einer seltenen Herzerkrankung. Christine, das anhängliche Mädchen, dessen blaue Augen ganz nach dem Vater kamen, litt am Downsyndrom. Ihre Tragödie spielte sich in einem anderen Leben ab, als die Eltern noch in Marokko und Algerien wohnten. Sie hatten wohl gehofft, die Erinnerung an sie könne in den Wirren der Unabhängigkeitskriege verloren gehen, die in den damaligen Kolonien tobten. Aber abschließen konnten sie dieses Kapitel nie. Wie sollte das auch möglich sein?
Nun verlangt ihr liebender Sohn, der drei Jahre nach Christines Tod geboren wurde, Antworten auf die Fragen, die sie sich nie stellen wollten. Érics Mutter weigert sich zurückzublicken. Sie will nicht verhört werden. Sie kann es nicht verhindern, dass ihre Stimme bricht. Érics Vater schiebt zuerst die Betroffenheit der Mutter vor, dann lässt sich sein eigener Schmerz nicht mehr verleugnen. Caravaca lässt nicht locker; bereits sein schönes Spielfilmdebüt »Hotel Marysol« spürte 2005 einer unbewältigten Vergangenheit nach.
In nur 67 Minuten entwickelt »Carré 35« eine traurige Dringlichkeit. Der Dokumentarfilm kennt keine Bildernot, sie ist vielmehr sein Thema. Die Mutter hat alle Fotos von Christine verbrannt, ließ nur eines für ihr Grab übrig, zu dem sie nie wieder zurückkehrte. Heute fehlt auch dies letzte Abbild, sein Platz auf dem Stein ist leer. Caravaca nimmt sich das Recht, seinen Vater auf dem Totenbett zu filmen. Er lässt seine intime Chronik einer Auslöschung weitere Kreise ziehen, bindet den kolonialen Hintergrund ein, stößt dabei auf eine nationale Kultur der Verdrängung. Kurz bringt er die Bedrohung filmischer Überlieferung ins Spiel und überdenkt dann seine eigene Verantwortung als Vater: Er will ein Gespenst vertreiben, damit nicht auch die nächste Generation der Caravacas mit ihm leben muss. Derweil darf er entdecken, dass andere das Andenken an Christine bewahrt haben, Verwandte, eine Freundin, die ehemaligen Hausangestellten. Sie verstanden besser als die Familie, dass darin eine Art von Erlösung liegt.
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