Kritik zu The Card Counter

© Weltkino

2021
Original-Titel: 
The Card Counter
Filmstart in Deutschland: 
03.03.2022
L: 
112 Min
FSK: 
16

Krieg und Spiele: Paul Schrader inszeniert die Geschichte eines geheimnisvollen Profizockers mit dunkler Vergangenheit als eindringliche Reflexion über Schuld, Sühne und Abu Ghraib

Bewertung: 4
Leserbewertung
3.5
3.5 (Stimmen: 2)

Das Karrierehoch von Paul Schrader ist eine der schönen Überraschungen im amerikanischen Independentkino der jüngeren Zeit. Nicht dass er vorher schlechte Filme gedreht hätte, doch seine Projekte wurden immer wieder von Problemen überschattet. Seien es die vielpublizierten Konflikte am Set von »The Canyons« oder der Streit um den Schnitt von »Dying of the Light«. Bis Schrader 2017 mit »First Reformed« ein überragender Kritiker- und ein solider Kassenerfolg gelang, Oscarnominierung inklusive. Mit »The Card Counter« knüpft er an diesen Erfolg und an zahlreiche Motive früherer Arbeiten an. Mehr noch als »Dying of the Light«, der sich mit amerikanischen Vergeltungsfantasien befasste, ist »The Card Counter« ein explizit politischer Film. Diese Ebene erschließt sich jedoch erst allmählich, denn zu Beginn sieht alles noch ganz anders aus (hiermit sei ausdrücklich vor Spoilern gewarnt). 

Wir sehen da einen makellos frisierten und smart gekleideten Profizocker in einem Casino; aus dem Off erläutert er die Grundregeln des Blackjack, seine eigene Philosophie und wie er zu dieser Profession kam: William Tell (Oscar Isaac) saß viele Jahre in einem Militärgefängnis; wofür, ist noch unklar, aber dort erlernte er das sogenannte Kartenzählen, das die Gewinnchancen beim Blackjack deutlich erhöht – und in Casinos nicht gern gesehen wird. Hier legt Schrader die erste falsche Fährte, denn wer nun ein Zockerdrama erwartet, wird enttäuscht. 

Trotz seiner Kunstfertigkeit beim Glücksspiel bleibt Tell immer in einem überschaubaren Gewinnrahmen. Sobald die Croupiers misstrauisch werden, verschwindet er. Selten verweilt er länger an einem Ort. Tell ist ein rastlos Reisender des Glücksspiels, der die Dinge unter ­Kontrolle behalten und zugleich unsichtbar bleiben will. Sein Name ist ein Pseudonym, und stets folgt er dem gleichen, bizarren Ritual, sein Hotelzimmer vollständig mit weißen Laken auszukleiden: Möbel, Bilder, sogar das Bett – eine gespenstische Aura zwischen Horrorfilmsetting, Gefängnis und Gummizelle.

Bald erfahren wir, was Tell in diese Isolation getrieben hat. Als Soldat war er an den Folterungen in Abu Ghraib beteiligt, entsetzt über sein eigenes »Talent«, das er mit einer Mischung aus Lust und Selbsthass auslebte. Sein ruheloses Leben zwischen gesichtslosen Casinos und schäbigen Motels gleicht einem selbst auferlegten Purgatorium: freudlos, weder an Gewinn noch an Adrenalin interessiert. 

Schraders Porträt der profanen Casinowelt ist dabei bemerkenswert, sein atmosphärisches Gespür für die Austauschbarkeit dieser von Kunstlicht und künstlichen Geräuschen bestimmten und von einer Mischung aus kauzigen Zockern und ältlichen Touristen bevölkerten Parallelwelt. An »Ocean's 11« erinnert hier gar nichts. 

Mit dieser Mischung aus Charakterstudie und spezifischer Milieuzeichnung steht »The Card Counter« in der Tradition von Schraders »Taxi Driver«, »Light Sleeper« und – nicht zuletzt durch Tells Erscheinungsbild – »American Gigolo«. Doch anders als in diesen Filmen verwehrt er jegliche Faszination für den gezeigten Mikrokosmos, als schiene ihm angesichts der realen Gräueltaten jeder Anflug von Glamour oder »Genre« frivol. Schrader zeigt Amerika als ein zwischen Trauma und Hurrapatriotismus erstarrtes Niemandsland.

Tell hält seine Erinnerungen an Abu ­Ghraib in einem Tagebuch fest (auch dies ein typisches Schrader-Motiv), nachts quälen ihn infernalische Alpträume. Seine Taten werden nie relativiert, im Gegenteil. Er ist sich seiner Schuld bewusst und tut Buße. Moral, Schuld, Vergebung – das sind seit jeher Schraders große Themen. 

Tell macht nicht den Eindruck, als würde er auf Erlösung hoffen, und doch scheint sich ihm die Chance zu bieten, als er den jungen Collegeabbrecher Cirk (Tye Sheridan) kennenlernt, dessen Vaters ebenfalls in Abu Ghraib diente und schließlich Selbstmord beging. Aus Rache will Cirk nun mit Tells Hilfe jenen Mann töten, der damals die grausamen Foltermethoden für die US-Armee entwickelte und vor Ort aus den Soldaten Folterknechte machte – der aber anders als die einfachen Marines nie zur Rechenschaft gezogen wurde. Auch dies entspricht den realen Ereignissen, und Schraders Zorn über diese himmelschreiende Ungerechtigkeit gibt seinem Film bei aller Unterkühltheit eine schwelende Energie. Willem Dafoe spielt diesen Mann mit einer Mischung aus Teuflischkeit und Banalität: ein Auftragsarbeiter der Gewalt, der sich an sein einstiges Tagesgeschäft kaum mehr erinnert.

Allerdings unterläuft Schrader auch die Erwartung eines Revenge-Thrillers, denn Tell sieht seine Chance vielmehr darin, Cirk zu retten, indem er ihn zu seiner entfremdeten Mutter und aufs College zurückschickt. Um dies zu finanzieren, lässt er sich von der smarten Spielerbrokerin Linda (hervorragend gegen ihr Image besetzt: die Komödiantin Tiffany Haddish) für die lukrativen World Poker Series anheuern. Ein Zockerdrama wird der Film dennoch nicht. Schrader hält die Stimmung so kühl und emotionslos wie Tells Attitüde – nur um in zwei bewegenden Szenen plötzlich (und völlig unerwartet) so romantisch und zärtlich zu werden, wie man es in seinem Werk wohl noch nie gesehen hat. 

Erlösung schenkt die Liebe gleichwohl nicht. Vielleicht einen Funken Hoffnung. Am Ende begeht William Tell eine Art Tyrannenmord, der auch sein Pseudonym erklärt, welches dem legendären Schweizer Freiheitskämpfer entlehnt ist. Die letzten Szenen zeigen ihn erneut im Gefängnis, eigentümlicherweise wieder ein Militärgefängnis. Zu Beginn saß er dort zu Recht als Kriegsverbrecher. Nun aber wirkt er eher wie ein politischer Gefangener.

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