Kritik zu Biutiful
Die letzten Tage im Leben eines heiligen Sünders. Javier Bardem brilliert als todkranker Kleinganove auf Erlösungstrip in einem Barcelona der hässlichen Hinterhöfe und Keller
Der Schauplatz allein verunsichert zu Beginn von Alejandro Iñárritus neuem Film. Nur allmählich kommt man dem Ort der Handlung auf die Spur. Einmal, in weiter Ferne, sind die Umrisse der Sagrada Familia zu erkennen. Der Film spielt also in Barcelona, aber in einem fremden Barcelona jenseits aller touristischen Schönheit. Das Wahrzeichen des chaotischen Stadtteils Santa Coloma, in dem Menschen aus der ganzen Welt auf engstem Raum zusammenleben, ist keine Kathedrale, sondern ein Industriegebäude mit unendlich hohen Schlöten, in deren Schatten mehr oder weniger heilige Familien aus Afrika oder China leben. Auf einen einzigen, besonderen Schauplatz scheint sich Iñárritu also diesmal zu konzentrieren, nachdem er in seinen früheren Filmen »Amores Perros«, »21 Grams« und »Babel« mit zersplitterten Strukturen und kreuzenden Erzählungen gesellschaftliche Miseren und persönliche Schicksale miteinander verbunden hat. Ein geradezu persönlicher Film scheint »Biutiful« zu sein, dem eigenen Vater gewidmet, von einem sterbenden Mann und seinem lebendigen Viertel handelnd, zwischen poetischem und magischem Realismus pendelnd. Doch Iñárritu kann es nicht lassen, er kann sich nicht beschränken auf die Zeichnung eines Viertels als eigenen Kosmos. Sein Stadtteil in Barcelona ist doch wieder ein Modell für die ganze Welt.
Der sterbende Mann, ein Kleinganove namens Uxbal, unheilbar an Prostatakrebs erkrankt, ist der Mittelpunkt von Santa Coloma und von Iñárritus Geschichte. Wie Satelliten kreisen um ihn herum all die anderen Geschichten seiner Familie, seiner »Geschäftspartner«, seiner Nachbarn. Manche Nebengeschichten wie die des chinesischen Clanchefs, der eine unglückliche homosexuelle Liebesaffäre durchlebt, bleiben fragmentarisch und blass. Um Uxbal herum kreisen aber auch Erinnerungen und Ahnungen, die Geschichte der Toten und des eigenen Todes. Denn Uxbal besitzt eine spirituelle Gabe, er kann ins Jenseits blicken.
Iñárritu entwirft also einen großen poetischen Zusammenhang, der nicht nur die Bewohner des Viertels schicksalhaft miteinander verknüpft, sondern auch die Toten und Erinnerten wie Uxbals Vater, der einst vor dem Franco-Regime nach Mexiko geflohen ist, mit einbezieht. Der mexikanische Regisseur umarmt einmal mehr die ganze Welt und das Jenseits dazu. Dieses engmaschige Netz durch die Zeiten und die Welten wirkt manchmal großartig: wenn Uxbal am Ende selbst zum Kind wird, gepflegt von einer jungen afrikanischen Mutter. Oft genug schleichen sich in die artifizielle Konstruktion aber auch falsche Töne ein: Da sehen die an den Strand gespülten Leichen illegaler chinesischer Arbeiter so aus wie die gestrandeten Wale, die man zuvor im Fernsehen gesehen hat. Hier zelebriert Iñárritu förmlich das Elend der Welt.
Uxbal, der Heilige und der Sünder, der heimliche König des Viertels und sein großer Verlorener: Er wird mit Wucht von Javier Bardem verkörpert, der für diese Rolle in Cannes den Darstellerpreis erhielt. Natürlich schaut man Bardem gerne dabei zu, wie er zwischen Verzweiflung und Disziplin schwankend versucht, in seinen letzten Lebenstagen die Welt um sich herum in Ordnung zu bringen. Man schaut gebannt zu, wie er liebevoll mit seinen zwei kleinen Kindern umgeht, wie er die Beziehung zu seiner psychisch kranken Exfrau in den Griff zu bekommen versucht. Aber dieser Uxbal ist freilich auch ein gefundenes Fressen für Bardem, ein Blueprint für eine Tour-de-force-Performance aus Passion und Melancholie. Manchmal befindet sich Bardem auf den Spuren von Anthony Quinn. Vielleicht hat gerade die Zusammenarbeit von Bardem und Iñárritu dem Film nicht gutgetan: Zwei obsessive, allzu kraftvolle Künstler lassen der Leichtigkeit kaum mehr Platz. Als »Tsunami der Emotionen« wurde »Biutiful« von manchem Kritiker bei seiner Aufführung in Cannes bezeichnet. Zu Recht, aber in einem eher negativen Sinne: denn »Biutiful« ist Überwältigungskino, das die schönen und schmerzlichen Momente beinahe erstickt.
Die große Inspiration für Iñárritus Film dürfte wohl Akira Kurosawas Klassiker »Leben!« gewesen sein. Die kraftvolle Poesie Kurosawas hat Iñárritu noch übersteigert, aber die Elegie des japanischen Meisters hat er übersehen.
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