Kritik zu Belleville, belle et rebelle
Daniela Abkes Dokumentarfilm erkundet das Viertel im 20. Pariser Arrondissement mit einem zweifachen Blick, der dessen Vergangenheit und Gegenwart zusammenführt. Als Elegie auf Folklore und urbanen Wandel ist er ein schönes Gegenstück zu »Fado – Die Stimmen von Lissabon«
Warum ist Frankreich nur so reaktionär, fragt der rüstige Greis mit der Baskenmütze, und sind die Menschen so gleichgültig geworden? Der Fremdenführer weiß keine Antwort darauf. Auf dem Friedhof Père Lachaise, wo die zwei sich begegnen, sind sie umgeben von Zeugnissen einer Vergangenheit, die anders und glorreicher war. Hier sind viele Mitglieder der Pariser Kommune begraben, in der Nachbarschaft von Edith Piaf und Henri Salvador. Die Kastanie, vor der die beiden stehen bleiben, hat den Aufstand noch erlebt.
Auch 150 Jahre nach seiner Niederschlagung atmet das Viertel Belleville nach wie vor dessen Geist. »Vive la commune!« steht noch trotzig an den Hauswänden. Im Norden von Paris, so scheint es in Daniela Abkes Film, macht man sich mehr Sorgen um die Vergangenheit als um die Zukunft. Der Angelpunkt ihrer nostalgischen Expedition ist das Bistro »Le vieux Belleville«, das Joseph leitet, dessen Eltern einst aus Tunesien hierher kamen. Das Exil gehört gleichsam zur DNS des Viertels; es dient als Refugium für Zuwanderer und erloschene Utopien. Hier wählt man traditionell links und trauert noch dem guten alten Klassenkampf nach. In Reiseführern gilt es längst als modisch und angesagt, aber Abke schürft tiefer; in einem stimmungsvollen Schwarz-Weiß, das sich nur knappe Ausflüge ins Pittoreske gestattet.
Ihr Blick ist fokussiert auf einige Bewohner, deren Lebenszweck es ist, die Erinnerung an das Vergangene wachzuhalten. Allesamt sind sie das, was man gern ein Original nennt. Sie haben den Gesang im Blut und tragen das Herz auf der Zunge, sind kontaktfreudig, temperamentvoll und kregel. Den melancholisch gewitzten Reigen der Unentwegten führt Lucio an, ein aus dem Baskenland geflüchteter Anarchist mit erklecklichem Vorstrafenregister. Zu ihm gesellen sich die ehemalige Sportlehrerin Minelle, die seit einem Vierteljahrhundert im Bistro singt und deren Wohnung einem Trödelladen gleicht; der Drehorgelspieler und Bänkelsänger Riton, der munter die Geschichtskenntnisse seines Publikums abfragt; sowie der schwerhörige Maler Steven, der das Viertel von einst auf den Wänden des Bistros festhalten will. Der Schriftsteller und Filmemacher Robert Bober zählt ebenfalls zu den Stammgästen; ihn fasziniert die Beredsamkeit alter Chansons und Fotografien. Gemeinsam mit Joseph rekonstruiert er die verschwundene Topographie des Viertels.
So ist die Überlieferung zugleich Thema und Ergebnis des Films. In ihm kristallisiert sich eine Vorstellung von Volkstümlichkeit heraus, die heiter und widerständig ist. Die altgedienten Chansons bürgen dafür, angefangen mit »Le temps des cerises«, dem Kampflied der Kommune, das so friedvoll klingt. Abkes Protagonisten tragen diese Doppeldeutigkeit in sich, nicht als Widerspruch, sondern als Lebensbejahung. Sie sind kluge Interpreten des Alltags. Es ist eine Freude, ihnen zuzuhören. Abke filmt sie kaum je als talking heads, sondern in Bewegung oder im Gespräch mit anderen. Gewiss, sie sind aus der Zeit gefallen, aber souverän geblieben. Die Nostalgie ist sehr lebendig in diesem Film.
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