Kritik zu Beating Hearts
Der französische Schauspieler Gilles Lellouche erzählt in seiner dritten Regiearbeit mit ungestümer wilder Energie von einer Amour fou und überhaupt von der Liebe in all ihren unzähmbaren Formen, mitreißend nicht zuletzt durch viel Zeitkolorit der 80er Jahre und die entsprechende Musik
Von vorn fegt die Kamera über Wiesen und Felder nach hinten, während von links ein Moped ins Bild rauscht. Kurz darauf versinken die Teenager Jackie und Clotaire im gelben Blütenmeer eines Rapsfeldes: »Kannst du den Kaugummi rausnehmen?«, bittet sie beim ersten Kuss, später wird sie den roten Kaugummi über ihrem Bett an die Wand kleben, wo er sich in ein schlagendes Herz verwandelt. Der dritte Spielfilm des Schauspielers Gilles Lellouche strotzt nur so vor ungestümer, wilder Energie und origineller visueller Ideen. Fast drei Stunden lang wird man im Rhythmus seines wild schlagenden Herzens mitgerissen.
Viel steckt drin im Originaltitel »L'Amour ouf«: Überforderung, Überwältigung, Erschöpfung, Atemlosigkeit, verrückte Liebe gegen jede Wahrscheinlichkeit. Jacqueline und Clotaire kommen aus verschiedenen Welten, sie aus bürgerlich intellektuellem Hause, er aus einer Hafenarbeiterfamilie. Sie verabscheut Gewalt, für ihn ist sie Teil seines Lebens in der Banlieue von Lille und Ausdruck seines ungezügelten Temperaments. Sie will lernen und es zu etwas bringen, er lässt sich im No-future-Lebensgefühl treiben. Trotzdem fliegen gleich bei ihrer ersten Begegnung die Funken, da sind sie noch Teenager, er lungert mit seiner Bande vor der Schule herum, um die aus dem Schulbus quellenden Mädchen blöd anzuquatschen, sie ist die Neue und bietet ihm Paroli. »Für wen hältst du dich, Großmaul«, frotzelt er. »Für ein Mädchen, das man nicht beleidigt«, kontert sie. »Nie! Ist das klar?!« Doch während sie sich noch angiften, sprechen ihre Augen schon längst eine andere Sprache.
Basierend auf dem Roman »Jackie loves Johnser OK?« von Neville Thompson zapft der 1972 geborene Lellouche das Lebensgefühl seiner eigenen Jugend in den 80er Jahren an, mal getrieben, mal getragen vom Zeitkolorit-Sound von The Cure, Prince, Billy Idol, Deep Purple oder Alan Parsons Project. Den ungestümen Mix aus Krimi- und Liebesgeschichte verlagert er von Irland nach Frankreich, von Dublin nach Lille.
Gleich mit den ersten Bildern wird man vom wilden, aggressiven Drive der Bandenkriminalität mitgerissen, mit den wild entschlossenen, jungen Männern, die in einer Parkgarage mehrere schwarze Limousinen ansteuern, sich Waffen aus einem der Kofferräume greifen, sich in die Autos verteilen, die sich dann in unheilvoller Dynamik durch die Spirale der mehrstöckigen Parkanlage schlängeln. Ihr tödlicher Rachefeldzug ist im Stakkato des Schusswechsels nur als Schattenballett an der Wand zu sehen und endet mit dem monotonen Dauerton der Autohupe. Virtuos ringt Lellouche den Standardsituationen des filmischen Erzählens über Gewalt, Liebe und Tod immer wieder neue Perspektiven und vitale, originelle und sinnliche Bilder ab.
Als Liebesgeschichte, die sich zugleich musikalisch und gewalttätig entfalte, beschreibt Lellouche seinen Film. »Beating Hearts« ist zerrissen zwischen den Urgewalten der Liebe und des Verbrechens, der positiven Kraft der einen und dem destruktiven Sog der anderen. Mit unmittelbarer Intensität ist der Film immer zugleich romantisch und tragisch und widersetzt sich dabei allen gängigen Klischees, etwa über die Lieblosigkeit des Umgangs in Arbeiterfamilien. Eigentlich umkreist er alle Erscheinungsformen der Liebe, die der Eltern, die auch in der trostlosen Banlieue blüht, die erste große, pulsierende, alles verzehrende Liebe der Jugend, die vernünftige Liebe, mit der man sich mit gebrochenem Herzen zu arrangieren versucht, die fürsorgliche Liebe eines besorgten Vaters und sogar die Liebe (und der Verrat) unter Freunden. Nichts weniger als die Liebe zum Leben wird hier aufgefächert, bis in die kleinsten Momente der Schönheit, die sich in einer Pfütze mit vielfarbig schillernden Ölspuren finden lässt.
Die Anfänge sind ruppig, aber auch zutiefst romantisch, wenn Clotaire (Malik Frikah) für seine Angebetete Jackie (Mallory Wanecque) eine Schallplatte ihrer Lieblingsband The Cure klaut oder im Speisesaal der Schule zwei Paletten ihres Lieblingsdesserts vor sie stellt. Später kommt sie dazu, als er sich gerade vor der Kneipe prügelt, sie reicht ihm ihr Halstuch, um Blut und Rotz abzuwischen, im nächsten Moment verwandelt sich die Romanze in ein Musical, dynamisch und schwerelos toben und tanzen die beiden im Rhythmus des Cure-Songs »A Forest« durch die Gänge der Schule, die Turnhalle, den Pausenhof, »Come closer and see, see into the dark (…) I hear her voice calling my name, the sound is deep in the dark . . .« Während sie in Wirklichkeit noch auf der Straße steht, verselbständigt sich da der Strudel der über sie hereinbrechenden Gefühle, verwandelt die Realität in einen Märchen-Musical-Traum, so wie später in der Schule zwischen den Dias einer Lehr-Show zur Funktion des Herzens plötzlich ein Bild von Clotaire im Rapsfeld aufpoppt.
Dann aber nimmt die Unbedingtheit der Liebe einen tragischen Lauf. Beim Überfall auf einen Geldtransporter wird einer der Fahrer erschossen, und weil der eigentliche Täter der Sohn des Bosses (mit der ihm eigenen Melancholie verkörpert von Benoît Poelvoorde, Stammschauspieler in allen drei Spielfilmen des Regisseurs) ist, muss Clotaire als Sündenbock herhalten und verschwindet für zehn Jahre hinter Gittern. Jackie bleibt mit gebrochenem Herzen zurück.
Nach seiner Entlassung klingelt Clotaire, der jetzt von François Civil, dem D'Artagnan aus »Die drei Musketiere«, verkörpert wird, bei ihrem Vater an der Wohnungstür, mit einem Zettel in der Tasche, auf dem er 475 Worte gesammelt hat, bei denen er an sie denkt. Doch Jackie, jetzt gespielt von Adèle Exarchopoulos, ist inzwischen mit dem Manager einer Autoverleihfirma verheiratet, den sie, so wie Clotaire zehn Jahre zuvor, mit ihrer kompromisslosen Ruppigkeit betört hat. Nun wird sich zeigen müssen, ob die Kraft der Liebe das Schicksal wenden kann. Gilles Lellouche hat hier einen Film erschaffen, der mit seiner explosiven Vitalität und seinem erfinderischen Esprit an die wilden, frühen Filme von Jean-Jaques Beineix und Leos Carax anknüpft.
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