Kritik zu Ava
In Léa Mysiusʼ märchenhaftem Coming-of-Age-Drama erfährt eine 13-Jährige, dass sie bald erblinden wird. Auf der Suche nach mehr Welt und mehr Erfahrungen bricht sie aus ihrem Leben aus
Ein dürrer schwarzer Hund streift über einen Strand an der französischen Atlantikküste. Zwischen all den in der Sonne liegenden Ausflüglern findet er seinen Weg zu einem steinernen Steg, der eine kleine künstliche Bucht erschafft. Erst auf dem Steg bleibt er kurz stehen und klaut der dösenden Ava ein paar Pommes frites aus dem Schälchen, das sie auf ihrem Bauch abgestellt hat. Eine seltsame Begegnung, die etwas Idyllisches und doch auch etwas Bedrohliches an sich hat. In dem Moment, in dem sich die von Noée Abita mitreißend verkörperte Ava regt und ihm direkt in die Augen sieht, läuft der Hund weiter und lockt sie zurück an den Strand. Fortan wird er für das 13-jährige Mädchen zu einer Art mythischem Führer, der immer wieder auftaucht und verschwindet. Er ist es auch, der die schon bald erblindende Ava mit dem 18-jährigen Juan (Juan Cano) zusammenbringt.
In Gesprächen weist die junge französische Filmemacherin Léa Mysius immer wieder darauf hin, wie sehr sie Filme wie Tod Brownings »Freaks« und Charles Laughtons »Die Nacht des Jägers« geprägt haben. Die Erinnerungen an diese nachtschwarzen Klassiker geistern nun auch durch ihr Spielfilmdebüt »Ava«. Als Ava und Juan während ihrer wilden Flucht in eine andere Welt ohne Regeln und Verbote schließlich in der Wohnwagensiedlung ankommen, in der es keinen Platz mehr für den jungen Mann gab, glaubt man fast, dass aus einem der Wohnwagen gleich die Missgestalteten und Ausgestoßenen heraustreten werden, von denen Tod Browning in seinen Filmen erzählt hat. Wie der amerikanische Regisseur blickt auch Léa Mysius voller Verständnis, aber ohne falsche Sentimentalität auf die Außenseiter, die sie porträtiert.
Noch deutlicher ist allerdings der Einfluss von Charles Laughtons einziger Regiearbeit. Das sommerliche Frankreich gleicht in »Ava« einem dunklen Märchenreich. Nicht nur für die an Retinitis pigmentosa leidende Ava verschwindet nach und nach alles in einem undurchdringlichen Schwarz. Das Augenleiden erklärt Avas stürmischen Versuch, so viel Welt wie nur möglich in sich aufzusaugen, und hat zugleich eine symbolische Dimension. Die Welt wird ein immer dunklerer Ort, und wer wie Juan nicht Teil der weißen französischen Mehrheit ist, muss fortwährend mit Schikanen rechnen. So zeugt Mysius' Erstling auch von gesellschaftlichen Veränderungen, die das Leben in Frankreich seit einigen Jahren prägen.
So wild wie Ava, die sich zusammen mit Juan einem surrealen Outlaw-Dasein hingibt, ist auch Mysius' Inszenierungs- und Erzählstil. Sie wechselt zwischen unterschiedlichen Tonlagen hin und her. Die Geschichte des Mädchens zerfällt mehr und mehr in Erzählsplitter. Aus dieser fragmentierten Form, die fortwährend andere Emotionen heraufbeschwört, zieht »Ava« eine ungeheure Energie, die noch einmal durch Paul Guilhaumes 35-mm-Fotografie verstärkt wird. Seine Bilder scheinen im Licht der Atlantiksonne regelrecht zu flirren, während die Nachtaufnahmen mit ihren diffusen Schatten eine poetisch-märchenhafte Atmosphäre verbreiten. Die Welt wird zum Spiegel von Avas innerem Tumult.
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