Kritik zu The Assassin
Hou Hsiao-Hsien, in den 80er und 90er Jahren als Hauptvertreter der taiwanesischen Nouvelle Vague gefeiert, hat sich im letzten Jahrzehnt rar gemacht. 2015 meldete er sich auf dem Filmfestival von Cannes mit dem wohl »stillsten« Martial-Arts-Film, den es je gab, zurück und erhielt prompt den Preis für die beste Regie
China im neunten Jahrhundert. Die Ära der Tang-Dynastie, eine noch immer hochgeschätzte Blütezeit der Kunst und Poesie, nähert sich ihrem Ende. Der Einfluss des Kaisers schwindet, die Provinzen gewinnen an Bedeutung, vor allem Weibo, dessen Herrscher ihre Macht in den vergangenen Jahrzehnten mehr und mehr ausgebaut haben. Es ist eine Zeit der Intrigen, in der Allianzen durch politische Ehen wie durch Staatskabalen geformt und wieder zerstört werden. Die Verhältnisse sind andauernd im Fluss. Die Waage der Macht schlägt mal zu der einen, mal zu der anderen Seite aus.
Persönliche wie politische Irrungen und Wirrungen schwingen in Hou Hsiao-Hsiens »The Assassin« mit. Doch sie bleiben meist im Hintergrund. Und selbst wenn sie wie in den Szenen, in denen die Berater von Tian Ji'an, dem Herrscher von Weibo, über militärische Strategien debattieren, einmal ganz direkt in den Fokus der Erzählung geraten, lösen sie kaum mehr als sanfte Wellen aus, die schnell wieder verschwinden. Hous eigenwillige Annäherung an das chinesische Martial-Arts-Kino und seine historischen Geschichten lässt den Betrachter anders als die Wuxia-Filme von Zhang Yimou und Chen Kaige nicht an einen reißenden Strom denken. Er ähnelt eher einem stillen See, der nur kurz von einer einzelnen Windböe oder von einem über seine Oberfläche springenden flachen Stein aufgestört wird.
Immer wieder scheint alles zu verharren. Die Zeit verstreicht auch in diesen Momenten noch, nur so langsam, dass ihre Gesetze außer Kraft gesetzt sind. Hous Kino öffnet sich dann für eine andere Wahrnehmung, die Zeit eher flächig als linear begreift. Aber nicht nur die Zeit verliert in »The Assassin« immer wieder ihre vertraute Bedeutung. Auch die Erzählung liegt stets unter einer Art Nebelschleier, der sie gelegentlich ganz zu verschlucken scheint. Vieles deutet der Film nur an, anderes blitzt kurz auf, um sich sofort wieder aufzulösen. Die größeren Zusammenhänge der Geschichte lassen sich eher erahnen als greifen. Aber selbst in den Momenten, in denen eine Orientierung unmöglich scheint, findet man sich intuitiv doch zurecht.
Da ist zunächst die von Shu Qi gespielte Nie Yinniang, die Attentäterin, die einst von ihrer Tante Jiaxin gerettet und dann von ihr zur Killerin ausgebildet wurde. Nach Jahren im Exil kehrt sie nach Weibo zu ihrer Familie zurück mit dem Auftrag, den Provinzherrscher Tian Ji'an zu töten. Yinniang und ihn verbindet eine lange Geschichte. Einst waren die beiden einander versprochen. Doch dann hatte Tians Vater eine politische Ehe arrangiert und so Yinniang um ihre Zukunft und letztlich auch ihr Leben betrogen. Trotzdem kann sie sich nicht dazu entschließen, Tian zu ermorden. Mehrfach bietet sich die Gelegenheit, den Befehl ihrer Tante auszuführen, dennoch verschont sie ihn. Vielleicht sind es ihre Gefühle für Tian, die ihn retten. Vielleicht ist es aber auch sein eigenes Schicksal. Er hat die Macht in Weibo und wirkt doch wie ein Verlorener. In Chang Chens Spiel liegt eine unendliche Traurigkeit. Letztlich wurde er genauso wie Yinniang den Interessen des Staates geopfert.
Diese tragische Geschichte einer Liebe, die nicht sein durfte, steht im Zentrum von Hou Hsiao-Hsiens Historienepos. Und doch erzählt er auch von ihr nur in kurzen Schlaglichtern. Kleine Szenen und leise Momente verdichten sich zu eindrucksvollen Stimmungsbildern. So erzählt Tian einmal seiner Geliebten Huji, wie er als Zehnjähriger beinahe an einem schweren Fieber gestorben wäre. Während er im Delirium lag und auf der Grenze zwischen Leben und Tod stand, wich die ein paar Jahre jüngere Yinniang nicht von seiner Seite. Sie war es, die ihn damals rettete. Aber das muss er gar nicht aussprechen. Chang Chens Tonfall und seine von der Schwere der Erinnerungen gezeichnete Haltung sagen schon alles.
Lee Ping Bins Kamera bleibt auch in dieser intimen Szene auf Distanz zu Tian und Huji. Zudem fällt ihr Blick auf das Liebespaar noch durch einen hauchdünnen Vorhang, der sich sanft im Wind bewegt. Alles scheint wie gedämpft, und dennoch bricht in diesem Augenblick eine Welle von Gefühlen über einem zusammen. So nah sich Tian und Huji in dem Augenblick seiner Erzählung, die auch etwas von einer Beichte hat, sind, spürt man doch die unermessliche Einsamkeit, die den Herrscher umgibt. Der Prunk seines Palastes, die Schönheit der wehenden Vorhänge, das alles sind Äußerlichkeiten: ein goldener Käfig, in dem er gefangen ist.
Schließlich schneidet Hou Hsiao-Hsien um, und man erkennt, dass Yinniang die ganze Zeit anwesend war. Verborgen hinter einigen Vorhängen hat sie Tian beobachtet. In seiner Einsamkeit erkennt sie sich selbst wieder. Diese distanzierten Blicke der Kamera, in denen die Welt als Raum erfahrbarwird, in dem Yinniang und Tian niemals wirklich heimisch werden, sind reinste Kinolyrik. Sie entziehen sich letztlich sogar der Beschreibung. Die Farben und Formen, die Hou Hsiao-Hsiens Protagonisten in diesen Momenten umgeben, sind von fast schmerzlicher Schönheit.
Und dennoch ist »The Assassin« von einer überwältigenden Hoffnung erfüllt. Yinniang mag von ihrer Tante zur perfekten Attentäterin ausgebildet worden sein, aber ihre Gefühle und ihre Güte hat sie nie verloren. Selbst in den kurzen, fast ganz ohne Spezialeffekte auskommenden Kampfchoreographien, die ebenso abrupt enden, wie sie beginnen, spürt man ihre Zurückhaltung. Sie tötet nur, wenn es unvermeidlich ist. Ihr Professionalismus verwandelt sich durch Shu Qis fließende Bewegungen und deren ungeheuere Perfektion in Poesie.
So transzendiert Hou Hsiao-Hsien das Martial-Arts-Kino. Die Opulenz von Wuxia-Filmen wie »Die Herberge zum Drachentor« und »Ein Hauch von Zen«, mit denen King Hu das Genre in den späten 60er und frühen 70er Jahren geprägt hat, weicht einer grandiosen Lakonie. Jede Auslassung schärft den Blick für die unzähligen Ausstattungsdetails, über die Hou Hsiao-Hsien die Tang-Dynastie wiederauferstehen lässt. Näher kann ein Film dieser Ära nicht mehr kommen. Aber Hou Hsiao-Hsiens Blick zurück hat trotz allem nichts Nostalgisches. Er rekonstruiert eine Zeit des Verfalls und der Erstarrung, die sich in Oberflächlichkeiten verloren hat, und erzählt so von unserer Gegenwart.
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