Kritik zu Anderson
Annekatrin Hendels zweiter Film, nach Vaterlandsverräter, einer geplanten Trilogie zum Thema »Verrat«
Es ist, als ob durch diesen Film eine Lunte gelegt sei. Und irgendwann wird sie gezündet. Am Anfang macht man es sich noch gemütlich. Da holt Sascha Anderson launig seine Stasiakten aus dem Keller. Gelesen habe er sie nie. Ach ja, das alte Zeug. Sascha Anderson, was war da noch gleich? DDR, Kulturbohème, geschmuggelte Manuskripte, Künstler, die von Schwarztee und Heizerjobs lebten. Und dann, kurz nach der Wende, die Welle der Erregung: Sascha »Arschloch« hat Biermann ihn getauft, und es stellte sich heraus, dass er recht hatte. Aber das ist alles lange her. Wer erinnert sich da noch genau?
Die, die dabei waren, erinnern sich genau, das ist eine der vielen Erkenntnisse, die man aus Annekatrin Hendels klugem Dokumentarfilm Anderson gewinnen kann. Ihre Erinnerungen sind stechend scharf, allenfalls die Gefühle, die sie dazu haben, sind verschwommen oder, besser gesagt: vielschichtig, doppeldeutig, überladen, schwer in Worte zu fassen. Hendels Film heißt Anderson nach der Person im Zentrum, aber was den Film zu einem Erlebnis macht, ist, dass er so viel mehr zeigt, als nur den Fall zu rekapitulieren. Darum geht es zwar auch. Im »oral history«-Verfahren puzzelt Hendel die vertrackte Geschichte zusammen vom ehemaligen Scheckbetrüger mit poetischer Ader, der zum »König des Prenzlauer Bergs« aufstieg, zum Popstar und zentralen Impresario der DDR-Untergrundkultur der 80er Jahre, und der dann als Verräter entlarvt wurde, als besonders fleißiger Stasispion, der über alles und jeden berichtet hat. Das sind die bloßen Fakten. In den Interviews aber, die Hendel mit den Zeitzeugen führt, wird gleichzeitig das Beziehungsnetz um diese seltsame Gestalt herum sichtbar, eine Serie von Verstrickungen, um deren Lösung die Betroffenen heute noch kämpfen, jeder auf seine Weise.
Die einen analysieren treffend und bedächtig. Holger Kulick, der damals fürs BRD-Fernsehen Ostberlin beobachtete, glaubt, dass die Stasi mit jemandem wie Anderson die Szene kalkuliert entsolidarisierte und entpolitisierte. Roland Jahn, heute der Beauftragte für die Stasiunterlagen, meint, dass kein Spitzel absehen konnte, wie groß der Schaden war, den er anrichtete. Da sind die, die Anderson ihre Küchen und ihre Herzen geöffnet haben wie Ekkehard und Wilfriede Maaß, die einst mit ihm menschlich Schiffbruch erlitten, denen das Ausmaß seines Verrats heute noch sichtlich zu schaffen macht. Und da sind die ehemaligen Studienkollegen, die Kameramänner Lars Barthel und Thomas Plenert, denen er noch nie geheuer war, damals nicht, heute nicht.
Souverän schneidet Hendel die Aussagen aneinander, die sich ergänzen oder auf sehr interessante Art widersprechen. Für Anderson, der auch in seinem offenbar recht bequemen aktuellen Leben in Frankfurt am Main gezeigt wird, hat Hendel in einem Studio die Küche von Ekkehard Maaß nachbauen lassen, die seinerzeit ein legendärer Kultursalon war. Es ist eine Ersatzkonfrontation. Statt mit den Menschen sitzt Anderson mit dem Geschirr von damals zusammen. Wie und was er redet, klingt so, als sei da nie ein Bruch gewesen. Und so wird die Anordnung zum Versuch mit dem Zuschauer: Wäre man damals nicht auch auf ihn reingefallen? Beziehungsweise: fällt man heute wieder auf ihn rein? Es ist zum In-die-Luft-Gehen.
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