Nachruf: Helga Reidemeister
Helga Reidemeister
Regisseurin, 4. 2. 1940 – 29. 11. 2021
Die letzten Nachrichten aus Afghanistan müssen für Helga Reidemeister ein einziger Schrecken gewesen sein. Denn das Schicksal des von Gewalt zermürbten Landes hatte die Dokumentarfilmerin ergriffen, nachdem sie für »Texas – Kabul« mit der afghanischen Frauenrechtlerin und Journalistin Jamila Muhajed gedreht hatte. Seitdem prägt sie eine tiefe Verbundenheit mit den gebeutelten Menschen und ihrem trotzigen Lebensmut, die sich auch aus der eigenen Prägung als Kriegskind erklärt. Insgesamt elf Mal waren sie und Kameramann Lars Barthel am Hindukusch. 2009 entstand als zweiter Teil der Afghanistan-Trilogie mit »Mein Herz sieht die Welt schwarz« eine dokumentarische Geschichte um die unerlaubte Liebe zwischen einem Ex-Kämpfer und einer verheirateten Frau. Sechs Jahre später dann kam mit »Splitter Afghanistan« der dritte Teil (und ihr letzter Film), der neben Geschichten aus einer Kabuler Klinik für Orthopädie und dem Archäologischen Museum sehr persönliche Töne anschlägt.
Am Ende heißt es: »Wir fliegen zurück aus einem Land, in dem der Krieg weitergeht. Wie lange noch?« Die Flugtickets zum Dreh nach Kabul hatte Reidemeister damals privat vom Preisgeld des Dortmunder Frauenfilmfestivals bezahlt, das sie 2011 für ihr dokumentarisches Lebenswerk ausgezeichnet hatte. Denn Sender und Gremien hatten ihr die Förderung für das Projekt wegen mangelnden »Wohlfühlfaktors« versagt. Bei der Regisseurin, die das dokumentarische Filmemachen immer emphatisch als zieloffene Suchbewegung verstand, verursachten solche Einschätzungen tiefen Groll, ebenso wie etwa die bei den Sendern üblichen Bezeichnungen »Dokumentationen« oder gar »Dokus«– nicht nur für die eigenen Filme.
Leicht zu händeln (auch den Ausdruck hätte sie gehasst) war die 1940 in Halle geborene Kämpferin wohl auch in ihren jungen Jahren nicht, als sie von einem Studium der Kunst über die Sozialarbeit zum Dokumentarfilm und an die Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin fand. Von Anfang an hatte sie das Filmemachen als gesellschaftlichen Auftrag verstanden. Schon mit ihrem aus einem Sozialprojekt im Märkischen Viertel entstandenen DFFB-Abschlussfilm »Von wegen Schicksal« (1978/79) schrieb sie sich in in die deutsche Filmgeschichte ein. Das Porträt einer Arbeiterin und ihrer Familie stand wegen des Vorwurfs des Voyeurismus im Fokus heftiger Debatten linker und feministischer Filmkritik. 1988 drehte sie mit »Aufrecht Gehen« ein Porträt von Rudi Dutschke, mit dem sie bis zu seinem Tod in einer Berliner Wohngemeinschaft gelebt hatte. »Rodina heißt Heimat« verknüpfte 1991 den Abzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland mit der Auflösung der Sowjetunion zu einer bitteren Bestandsaufnahme. Mir besonders eindrücklich war »Gotteszell« (2001), in dem Reidemeister in intimen Begegnungen mit Insassinnen der gleichnamigen JVA Lebensgeschichten nichtprivilegierter Frauen sichtbar macht, denen das Gefängnis statt Strafe erstmals im Leben Schutz- und Reflexionsraum bietet. Am 29. November ist Helga Reidemeister nach langer Krankheit gestorben. Ihr emphatischer Blick wird fehlen.
Kommentare
Zum Tod von Christa Reidemeister
Ganz herzlichen Dank an Silvia Hallensleben für ihre warmherzigen Nachruf dieser engagierten Frau!
Peter Heim, Köln
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