Kritik zu Toni Erdmann
Bei der Premiere in Cannes mit stehenden Ovationen gefeiert: Maren Ades fein beobachteter und gleichzeitig zum Schreien komischer Film über eine ganz normale Vater-Tochter-Beziehung ist ein Triumph für den deutschen Film und für seine zwei Hauptdarsteller Sandra Hüller und Peter Simonischek
Eltern haben generell eine besondere Fähigkeit, ihren Kindern peinlich zu werden, immer dann, wenn sie mit der falschen Geste zur falschen Zeit am falschen Ort auftauchen. Für die Betroffenen tun sich Abgründe auf, das kann auf dem Schulhof ebenso passieren wie im Foyer eines Hotels. Als der Vater (Peter Simonischek) mit verschmierter Clownsschminke zu spät beim Familienkaffeekränzchen erscheint, kann man am Gesicht der Mittdreißigerin Ines (Sandra Hüller) bereits ablesen, dass ihr Verhältnis auf einem Fundament zahlloser Enttäuschungen aufgebaut ist: Zu spät ist er, was sonst. Albern sieht er aus, dieser abgehalfterte Musiklehrer, der sich nicht mal die Schminke abwaschen kann, mit der er vermutlich auch von den Kindern in der Schule nur mitleidige Blicke erntet. Geschenk hat er natürlich auch keins dabei, obwohl klar war, dass Ines' Geburtstag vorgefeiert wird, weil sie am nächsten Tag schon wieder nach Bukarest fahren muss, wo ihre Karriere als Unternehmensberaterin sie gerade hingeführt hat. Hochnotpeinlich dieser ganze linkische Alt-68er-Auftritt. Na, vielleicht würde er sie ja mal besuchen in Rumänien, murmelt Vater Winfried. Auch wieder nur so ein Spruch, denkt sich Ines vermutlich. Doch dann stirbt sein alter Hund.
Schon in ihren beiden vorausgegangenen Filmen hat Maren Ade die Unzulänglichkeiten der Existenz und die Stromschnellen menschlicher Beziehungen mit schmerzlicher Genauigkeit ausgelotet. Doch die Nöte einer jungen, unerfahrenen Lehrerin in »Der Wald vor lauter Bäumen« und der quälende Urlaubszank eines Paares in »Alle Anderen« waren nur Fingerübungen im Vergleich zu diesem minuziösen Meisterstück, das bei der Premiere in Cannes mit Standing Ovations und einem Titelseitenfoto in »Le Monde« gefeiert wurde.
Der Hund ist tot, also beschließt Winfried, sich seiner Tochter zuzuwenden, und es genügt ein Blick ins Gesicht von Sandra Hüller, um vom Strudel der Gefühle mitgerissen zu werden, diesem alles verschlingenden Mix aus Scham und Wut, Hilflosigkeit und schlechtem Gewissen: Geschäftig durchquert sie die Hotellobby mit einer Gruppe von Kollegen und Kunden und versucht, die Contenance zu wahren, als sie aus dem Augenwinkel ihren Vater entdeckt. Am liebsten würde sie ihn ignorieren. Weil das nicht geht, nimmt sie ihn notgedrungen auf einen Empfang mit, wo er mit Plastiktüte und Zottelklamotten ein wandelnder Affront ist und sie in ihrer ohnehin labilen Situation ständig aus dem Gleichgewicht bringt. Nach einer Abfolge peinlichster Momente bricht der Vater das Katastrophenwochenende ab, nur um in neuer Identität wieder aufzutauchen. Mit zerzauster Langhaarperücke und Faschingsgebiss gibt er sich als Unternehmenscoach Toni Erdmann aus und zwingt seine konsternierte Tochter vor Kollegen und Kunden zum Mitspielen. Mit seinem Schabernack macht er die feinen Haarrisse familiärer Verhältnisse und menschlicher Beziehungen sichtbar und entlarvt die Masken aller Umstehenden, bis sie am Ende im wahrsten Sinne des Wortes völlig nackt dastehen.
Nach der präzisen Ouvertüre braucht Ade nicht mehr viel für das nun folgende Wechselbad der Gefühle zwischen sprachlosem Entsetzen, leisem Schmunzeln und brüllendem Gelächter. Es reichen ein paar bizarre Accessoires aus dem Faschingsbedarf wie ein Gummigebiss, eine zottelige Perücke, ein Furzkissen, ein Paar Handschellen und zum großen Finale noch ein monströses Fellkostüm. Und zwei grandiose Schauspieler wie Sandra Hüller und Peter Simonischek, die eine Reihe verkorkster Momente in allen Nuancen von Verzweiflung, Hilflosigkeit und Zärtlichkeit durchspielen. Wobei sich der Rahmen von der intimen Vater-Tochter-Beziehung fast beiläufig zur Gesamtlage der Welt ausweitet, mit dem alltäglichen Sexismus, dem eine Frau in der Berufswelt ausgesetzt ist, mit existenzgefährdenden Sparprogrammen als Folge der Wirtschaftskrise und der Ausbeutung osteuropäischer Länder.
Stream [arte bis 4.8.20]
Kommentare
Zähflüssig und lehrreich
Gestern »Toni Erdmann« gesehen. Gelitten. Gegähnt. Gewünscht, das Trinkspiel »trink, wenn sich jemand falsche Zähne einsetzt« auf movieboozer.com VOR Filmbeginn entdeckt zu haben.
Halva, der auf dem Balkan beliebte türkische Honig, könnte nicht zähflüssiger sein als dieser Film.
Gelernt, immerhin, wie frau einen Reißverschluß am Rücken autonom mit einer Gabel schließt.
...
So unterschiedlich schön ist die Wahrnehmung, gerade wieder im TV gesehen. Unfassbar gute Schauspieler, Zwischentöne, Ebenen... mehr geht fast nicht in einem Film.
Lang, länger, am längsten
Hab das hochgelobte Werk nun auch endlich gesehen. Und musste leider feststellen, dass Maren Ade die Kunst aller Künste nicht beherrscht: das Weglassen und Aussondern. So ist leider eine langatmige und zähe Dramaturgie entstanden, die es nicht schafft, aus der Humorlosigkeit, Verklemmt- und Verkniffenheit ihrer Figuren wirkliche Komik entstehen zu lassen – und welches Komikpotential Humorlosigkeit hat, sollte bekannt sein. Gut dosiert hätte das die Sicht auf die Abgründe der Vater-Tochter-Beziehung keinesfalls beschädigt, eher sogar geschärft.
Vielleicht lag´s an dem, was man dem Film als größten Pluspunkt attestieren muss: die Präzision und Intensität der beiden Hauptdarsteller. Da tut natürlich jede Szene, jede Minute weh, die man wegschneidet. Besser wär´s aber gewesen.
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