Berlinale-Abschluss: Menschen in Ausnahmesituationen

»Touch me Not« (2018). © Manekino Film, Rohfilm, Pink, Agitprop, Les Films de l'Etranger

Am Ende kommt immer alles ganz anders. Das ist eine Weisheit, die jeder kennt, der oft ins Kino geht. Aber was für Filme gilt, das muss auf Festivals erweitert werden. Den Gewinnerfilm der 68. Berlinale-Ausgabe jedenfalls hatte niemand auf dem Radar gehabt. In den Favoritenlisten der Kritiker in den Tageszeitungen und Fachzeitschriften führten andere Filme, das philippinische – und vier Stunden lange – Bürgerkriegs-Epos »Season of the Devil« von Lav Diaz etwa, oder Christian Petzolds »Transit«, in dem der Regisseur Anna Seghers gleichnamigen Exilanten-Roman in das Marseille von heute verlegte. Aber die Jury um Regisseur Tom Tykwer entschied sich am Ende der zehn Festivaltage für »Touch Me Not« der Rumänin Adina Pintilie.

Am Anfang dieses Films sieht man, wie das Team die Kamera aufbaut. Es ist der Beginn einer Versuchsanordnung, in der die Regisseurin Intimität und Sexualität, aber auch Nähe und die Angst davor verhandelt. Im Mittelpunkt steht eine Frau, die sich zu Beginn einen Callboy bestellt hat und ihm beim Masturbieren zuschaut. Was das Tatoo auf seiner Haut bedeute, fragt sie ihn. Das sei persönlich, antwortet er nur. Das setzt auch den Ton dieses Films, in dem es immer wieder um Distanz und Öffnung geht. Laura (Laura Benson) ist quasi der Katalysator des Films, der in einer Melange aus Dokumentation und Fiktion auch einen Körpererfahrungsworkshop mit behinderten Menschen beobachtet.

»Zuschauer fliehen bei zuviel Sex bei Sex-Doku«, hatte die in diesem Metier offenbar beschlagene »Bild«-Zeitung getitelt und den Umstand gemeint, dass in den Pressevorführungen viele Journalisten relativ schnell das Weite gesucht hatten. Aber das Problem sind nicht die expliziten Szenen von »Touch Me Not«, sondern dass er am Ende ziemlich ergebnislos bleibt. Dass jeder unter Intimität, aber auch Sexualität etwas anderes versteht, stellt nun keine so ganz neue Erkenntnis dar.

Aber auch wenn diese Jury-Entscheidung fragwürdig erscheint, sie entsprach auch einer Tendenz vieler Filme.  Sie setzten ihre Figuren Situationen aus, die sie an ihre Grenzen brachten, beobachteten sie wie in einer Laborsituation. In »Unsane«, einem mit dem Handy gedrehten Horrorfilm des US-Amerikaners Steven Soderbergh, wird eine Bankerin gegen ihren Willen in einer psychiatrischen Klinik eingebuchtet – und muss realisieren, dass der Mann, der sie jahrelang gestalkt hat, dort als Pfleger arbeitet. »Utøya 22. juli« ist die Rekonstruktion des Attentats auf der norwegischen Insel vor sieben Jahren, gedreht in einer einzigen Einstellung mit Handkamera, atemlos, immer aus der Perspektive der Opfer.

In dem polnischen Film »Twarz« (Gesicht) von Malgorzata Szumowska (die schon mit ihrem »Body« und »...in the Name of the Father« auf der Berlinale vertreten war), wird ein Bauarbeiter nach einem Unfall durch eine Gesichtsoperation ziemlich entstellt und muss sich neu orientieren. »Twarz« ist eine Mischung aus Problemfilm und einer Satire auf die polnische Befindlichkeit zwischen Katholizismus und Ausgrenzung. Dafür hat Szumowska zurecht den Großen Preis der Jury bekommen.

In einer Ausnahmesituation befindet sich auch Romy Schneider in »3 Tage in Quiberon« von Emily Atef, eine Künstlerin in einer Existenzkrise, die 1981 Zuflucht in einem sanatoriumsähnlichen Hotel an der französischen Atlantikküste gesucht hat. Sie kämpft im Interview mit dem »Stern«-Journalisten Michael Jürgs, das in diesen drei Tagen geführt wird, um die Deutungshoheit in ihrem eigenen Leben. Marie Bäumer spielt diese Romy in dem atmosphärisch dichten Film in einer Mischung aus Verletzlichkeit und Verzweiflung. Auch sie hätte den Preis als beste Schauspielerin verdient gehabt (den Ana Brun für ihre Rolle in »Las Herederas« aus Paraguay erhielt).

Vier deutsche Filme liefen in dem 19 Filme umfassenden Berlinale-Wettbewerb, der in diesem Jahr auch erschreckend viele Tiefpunkte hatte. Die deutschen Beiträge gingen alle am Ende leer aus. Das ist eigentlich nicht weiter schlimm. Aber die Jury hat dabei ein kleines Meisterwerk übersehen: »In den Gängen« von Thomas Stuber. Ein Film, der unter den Beschäftigten eines Großmarkts spielt, in der Welt der Malocher und Wendeverlierer. Und ein Film, der wie kein anderer in den letzten Jahren viel Zeit darauf verwendet, menschliche Arbeit darzustellen. Zum Beispiel das Einräumen von Kisten – und das Gabelstaplerfahren. Zum Glück haben zwei unabhängige Jurys "In den Gängen" ausgezeichnet: die Ökumenische Jury und die Jury des Gilde-Filmpreises.

Meinung zum Thema

Kommentare

Das war wohl der größte gemeinsame Nenner: Menschen in Ausnahmesituationen ? Für welchem guten Film trifft das nicht zu ? Wohlfeil. Und schade, das AN ELEPHANT SITTING STILL, ein wahres Meisterwerk, selbst hier nicht Erwähnung findet. Dieser Film hätte zweifellos den Wettbewerb auf eine andere Ebene gehoben.
Übrigens, die traurige Wahrheit ist, die Jury hat mit der Entscheidung für TOUCH ME NOT der Berlinale 'nachhaltig' geschadet. Wer hat danach noch Lust mit seinem Film in den ohnehin mit Überflüssigem überfrachteten Wettbewerb zu gehen ? Stilblüte des aktuellen MeToo-angetriebenen Sensibilisierungszwangs ? Möglich wär's !

Get straight. Herzliche Grüße.

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