Kritik zu Privatunterricht
Wie wäre es, wenn die »Gefährlichen Liebschaften« nicht aus der Perspektive der durchtriebenen I ntriganten erzählt würden, sondern aus der ihrer arglosen Opfer?
Der Belgier Joachim Lafosse gehört zu jenen Filmemachern, die misstrauisch werden, wenn es keine Barrieren im Zusammenleben mehr gibt. Er besitzt ein präzises Gespür für die Mechanismen, die Freizügigkeit in ein Gefängnis verwandeln. In »Nue Proprieté«, seinem vorherigen Film, schlägt das scheinbar entgrenzte Miteinander einer vaterlosen Familie um in einen Zustand der Klaustrophobie, der erstickenden Unentrinnbarkeit.
»Auf unsere Grenzen« hat er seiner vierten Regiearbeit als Motto vorangestellt. Diese Widmung ist keine erzählerische Hypothek, keine Sichtverengung, sondern das Sprungbrett einer skeptischen Neugierde, welche die Figuren erst einmal gewähren lassen will. Lafosse' Protagonist, der 16-jährige Jonas (Jonas Bloquet), steht nicht nur vor einer, sondern vor vielen Schwellen. Dieser Sommer birgt lauter Herausforderungen, denen er sich nicht gewachsen fühlt. Seine Eltern haben nach ihrer Trennung die Erziehung einem befreundeten Paar übertragen. Er ist ein mittelprächtiger Schüler, muss in den Ferien eine Prüfung bestehen, sofern er das letzte Schuljahr nicht wiederholen will. Er macht beim Tennisunterricht gute Fortschritte, versagt aber beim ersten Turnier. Und vor dem ersten Mal, das er gern mit Delphine (Pauline Etienne) erleben würde, ist ihm auch bang. Aber all diese Schwellen sind für ihn nicht nur angstbesetzt, sondern bergen auch die Hoffnung, dass er fortan sicherer durchs Leben kommen wird, wenn er sie erst einmal gemeistert hat.
Der Blick der Kamera ist ganz auf ihn konzentriert, auf seine Anspannung, seine Entschlossenheit, sein Zögern. Die Umbrüche in seinem Leben geschehen ganz schnell, abrupt wird er mit den Konsequenzen seiner Handlungen konfrontiert. Der Zuschauer wird ständig in Situationen geworfen, die er erst enträtseln muss. Lafosse erzählt dies in ruhigem Rhythmus, der freilich nicht beschwichtigtend ist, sondern Raum schafft für Zweifel. Vielleicht ist die Kamera auch deshalb mit solcher Zärtlichkeit auf ihn fixiert, weil er das Subjekt der Geschichte ist, aber als Objekt behandelt wird.
Er wächst in großer, scheinbar paradiesischer Freiheit auf. Seine Ersatzeltern und ihr bester Freund Pierre (Jonathan Zaccai) kennen keine Tabus und Vorurteile, in ihrem Alltag leben die Glücksutopien der 68er weiter. Mit der größten Selbstverständlichkeit wird beim Essen über Jonas' erstes Mal gesprochen, über seine Unbeholfenheit und die Zuversicht, dass sich auch beim Sex alles noch lernen lässt. Die Gespräche und ihre bald tatkräftige Hilfsbereitschaft machen ihn verlegen und neugierig. Er ahnt nicht, dass die unbedingte Offenheit ihn bald überfordern und das Arrangement der Libertinage, in das er zusehends verstrickt wird, von Delphine entfremden wird. Die geschmeidigen Kamerabewegungen verleihen den Initiationsriten der Erwachsenen eine bestrickende Folgerichtigkeit. Jonas ist eine leichte Beute für die Strategien einer Manipulation, die sich absichtslos gibt, aber zielstrebig den Boden bereitet für die Verführung. Seine Sinne wollen eingenommen sein. Aber will er deshalb auch korrumpiert werden?
Kommentare
Unbedingte Offenheit
Für mich geht dieser Film zentral um das Thema Missbrauch - und ich frage mich, warum das Wort im Kommentar vermieden wird. Missbrauch ist mehr als Verführen und zum Objekt machen, sondern die Missachtung von Generationsschranken und Ausnutzung eines Machtgefälles. Genau darum dreht sich dieser Film, und nicht um die "Glücksutopien der 68er". Woher nimmt der Rezensent diesen Zusammenhang? Was mich am Film besonders gestört hat, dass er auffallend lange auf Szenen mit Jonas verweilt, ohne das damit seine Aussage deutlicher würde. Was den Zuschauer zum Voyeur macht, und ganz offensichtlich eher der Spekulation auf den Markt als dem besseren Verständnis der Handlung dient.
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