Hinter den Wäldern: Die neue Staffel »Twin Peaks«
»Twin Peaks«: Staffel 3. © Showtime
»Twin Peaks« von David Lynch hat das Erzählen in Fernsehserien neu definiert. 1990 auf ABC zum ersten Mal ausgestrahlt, entwickelte sie sich auch bei uns zum Kultphänomen. Vor 25 Jahren lief der Kinofilm an. Jetzt hat Lynch eine dritte Staffel gedreht, die im Mai in den USA im Pay-TV startet. Georg Seeßlen wirft einen Blick zurück auf eine Serie voller Geheimnisse und erfindungsreicher Bilder
»There is a story behind that.« So beginnt die »Log Lady« die Einführung zu ihrer Person und zur Stadt Twin Peaks in der Pilotfolge der Serie im amerikanischen Fernsehen. Damit verrät sie das Prinzip des ganzen für damalige Begriffe gewaltigen Erzählwerks, für das ein Mordfall und die Anwesenheit eines teilschamanischen Detektivs allenfalls eine von vielen Zugangsformen bedeuten. Was immer geschieht, es steckt eine Geschichte dahinter, und dahinter steckt wieder eine Geschichte und dahinter wieder eine und wieder eine. Und jede Geschichte sieht von der aus betrachtet, die hinter ihr steckt, wieder anders aus. Teilweise haben diese Geschichten die Form dessen, was man im gewöhnlichen Leben den »Traum« nennt. Aber kein Traum in »Twin Peaks« bleibt ohne Folgen für die anderen Geschichten, und jede Geschichte könnte ihrerseits wieder als Traum einer anderen angesehen werden.
In »Twin Peaks« also gibt es keine Leute wie in einer gewöhnlichen Kleinstadtserie oder einer gewöhnlichen Kriminalhandlung, sondern ineinandergeschachtelte Geschichten, die eben kein vollständiges Ganzes (das »Wir« der Kleinstadt) und keine vollständige Lösung ergeben. Am Ende wissen wir zwar, wer der Mörder ist, aber dahinter steckt ja wieder eine Geschichte, und sehr bewusst endet die Serie nicht mit der Auflösung des kriminalistischen Rätsels, was nicht wenige Zuschauer ihr dann doch wieder ein bisschen übelgenommen haben. Was »Twin Peaks« auszeichnet und bis heute einzigartig macht, auch wenn noch so vieles vom »neuen Erzählen« in den Kabelfernsehserien sich sehr eindeutig auf das große Vorbild bezieht, das ist auch unwiederholbar, nämlich die Begegnung einer sehr, sehr eigenwilligen Seh- und Bildweise, wie sie von den Filmarbeiten David Lynchs bekannt war, mit einer merkwürdigen soziologischen und politisch-ökonomischen Genauigkeit. Twin Peaks ist ein reichlich abgedrehter Alptraum, voller Surrealismen und Symbolismen, die genauso gut etwas bedeuten können, wie sie auch reines poetisches und manchmal sogar herzlich albernes Spiel sein können. »Twin Peaks« ist aber zur gleichen Zeit ein unbestechlich perfide-realistisches Abbild der amerikanischen Provinzgesellschaft in den Zeiten der ersten großen Deregulation, ein Panoptikum der Gewinner und Verlierer, der Lebenden und der Untoten des Neoliberalismus zu der Zeit, als man dieses Wort noch nicht so inflationär gebrauchte. Und es ist das Abbild eines gnadenlosen, sollte man sagen: letzten, Generationenkonflikts.
»Twin Peaks« ist ein Labyrinth mit mehreren Ein- und Ausgängen (wobei man sich bei den Ausgängen nicht so sicher sein kann): Man kann, nur zum Beispiel, das Geschichtengeflecht sehen als eine besondere Station in der Reise des David-Lynch-Helden, von der Verdammnis zur Erlösung bis zur, vermutlich, noch tieferen Verdammnis. In den Filmen, die David Lynch nach »Twin Peaks« drehte, ist dieser Held tatsächlich abhanden gekommen, spukt nur noch in den Köpfen aufgelöster Frauen und derangierter Biografien: »Twin Peaks« ist nämlich auch das poetische Dokument einer Auflösung des Subjekts. Das Lynch-Motiv schlechthin. Doch während es sich in seinen Filmen normalerweise als Groteske und Tragödie ereignet, wird es hier episch und in zahlreichen Facetten ausgebreitet.
Dass manche Geschichten traurig sind und andere komisch, davon kündet ebenfalls die »Log Lady« am Beginn. In »Twin Peaks« geht nicht nur die Gewissheit des Genres verloren (Mystery? Crime? Melodrama? Comedy? Frontier Drama? Detective Story? Horror? Backwood Story? Thriller? Teenage Delinquence? Retro? Soap Opera?), sondern auch die emotionale Tonart. Weder gehen die Melancholie und die Groteske eine neue Gemeinschaft ein, noch folgen sie aufeinander; sie sind, oft genug in einer einzigen Einstellung, in einer Geste, einem Ausdruck, auf gleich intensive Weise gegenwärtig. Zur großen eigenen Verwunderung kann man Schmerz und Gelächter ebenso gleichzeitig erfahren wie wahres Gefühl und künstliche Erscheinung.
»Twin Peaks« ist nicht nur die Wiedergabe einer Recherche – die Suche nach dem Mörder, die zugleich die Suche nach dem Bösen ist –, sondern auch ein Versuch über die Trauer und die Arbeit, die mit ihr verbunden ist. Wahrscheinlich ist in »Twin Peaks« mit Laura Palmer die Zukunft gestorben. Der Tod von Laura Palmer ist so viel mehr als die schicke, skandalöse Leiche am Beginn eines »Tatort«; er ist der radikale Bruch, er ist eben das, was niemals hätte geschehen dürfen. Einem solchen Bruch begegnen wir oft in David Lynchs Arbeiten, nicht nur in seinen Filmen, sondern auch in seinen Zeichnungen und Collagen: Etwas ist geschehen, was eine Rückkehr zur Ordnung nicht mehr möglich macht. Der Tod von Laura Palmer ist das Zentrum einer imaginären negativen Religion.
»Twin Peaks«ist ein ästhetischer und ein narrativer Rausch. Eine Trance wird erzeugt, in der es weniger darum geht, einer Geschichte zu folgen, als vielmehr einen Zustand zu genießen. Einen Zustand, der sich über den Pilotfilm und die 29 Folgen in zwei Staffeln zwar leicht verändert, der aber vollkommen die Aufmerksamkeit absorbiert. »Twin Peaks« konstruiert insofern ein für das Fernsehen neues Sehen, als alles subjektive Wahrnehmen und Empfinden in der Handlung verspiegelt und verdoppelt ist. In diesem Echoraum der populären Kultur meint man beständig, sich selbst zu begegnen, als einem Herumirrenden unter anderen Herumirrenden. Einem, der immer wieder den eigenen Erwartungen zum Opfer fällt. Der ästhetische Rausch entsteht auch durch den Anachronismus der Ausstattung. Gegenwärtiges und Nostalgisches, Realismus und Zitat kreisen umeinander, und so wie FBI-Agent Dale Cooper die Szene gleich mit einem W.-C.-Fields-Zitat betritt, scheinen viele Figuren einem Rollenspiel mit Hollywood- und TV-Charakteren zu entsprechen.
Mit »Twin Peaks« kehrt die Fernsehserie zu einer Erzählweise zurück, die lange vergessen, verachtet, verdrängt war, nämlich zur Kolportage. Im Gegensatz zum großen Roman und im Gegensatz zum seriellen Erzählen der ewigen Wiederkehr immergleicher dramatischer Module entsteht die Kolportage sozusagen organisch, korallenriffhaftig aus einigen wenigen Vorgaben, aus lauter Abschweifungen, Ausschmückungen, Retardierungen. Wenn ein Konflikt auftaucht, kann man ihn auf die Hauptlinie zurückführen, ebenso gut aber kann man ein paar neue Figuren auftauchen lassen, neue Schauplätze eröffnen oder Nebengeschichten einfügen. Im Gegensatz zu einem »Spielfilm« und im Gegensatz zu einer klassischen Serie, sei’s nach dem Prinzip der abgeschlossenen Episode, sei’s nach dem Cliffhanger-Prinzip, hat »Twin Peaks« weder wirklichen Anfang noch wirkliches Ende. »Twin Peaks« könnte immer weitergehen, und es würde immer weiter an der dramaturgischen und der Subjektgewissheit nagen, wie David Lynch mit einem an die Serie anschließenden Kinofilm, »Fire Walk with Me« (1992), zeigte, der weder Fortsetzung noch Vorgeschichte, weder Spin-off noch Lückenfüller war, sondern eine weitere innere Zersetzung der Erzählung. Selbst Menschen, die sich an »Twin Peaks« als medialen Zustand (eine Art Bildmeditation) gewöhnt hatten, zeigten sich dem Film gegenüber empört oder enttäuscht. Da nämlich konnte man einen ganz anderen Argwohn entwickeln: dass Twin Peaks auch ein unverschämter Ansatz dazu war, sich über uns lustig zu machen.
Alle Geschichten aus »Twin Peaks«, wieder zitieren wir die »Log Lady«, so unterschiedlich sie auch sein mögen, sind geheimnisvoll. Das will mehr heißen, als dass die Menschen sich nicht »berechenbar« verhalten und alle ihre düsteren Seiten haben, von denen sie nur einen Bruchteil offenbaren. Die Lösung des kriminalistischen Rätsels ist nicht mehr, wie im Detektivroman als Kind der Aufklärung und seinen vielen auch audiovisuellen Derivaten, zugleich die Klärung des Geheimnisses. Im Gegenteil: Je mehr man hier von den Menschen und ihren Beziehungen erfährt, desto rätselhafter werden sie.
Nicht nur einige Geschichten und Charaktere in »Twin Peaks« sind komisch; die Anlage der Figuren, die immer zugleich Mensch und Maske sind, zielt auf einen grotesken Reigen. »Twin Peaks« ist eine große Parodie auf die Versuche, sich einen Reim auf die Welt zu machen.
»Twin Peaks« ist eine negative Schöpfungsgeschichte. Mal mehr, mal weniger erfahren wir in den einzelnen Folgen, dass es hier immer auch um eine religiöse Passion geht. Nach dem großen Bruch zerfällt die Beziehung der Menschen zur Transzendenz in die Konstruktion des Bösen und die Hoffnung auf Gnade. Aber am Ende, als wir dem Täter ganz nahe sind, im Tanz, wissen wir nicht mehr genau, wie man das eine vom anderen unterscheiden kann. Der Mord an Laura Palmer ist eine böse Tat des inzestuösen Begehrens, eine Folge der fundamentalen moralischen Deregulation, gewiss, er ist aber auch ein religiöser Akt, ein Opfer, das abwesende Götter provozieren soll, eine traumhafte Verschmelzung. Die Frage, ob Laura Palmer zu retten gewesen wäre, das verlorene Mädchen der Gemeinde, wenn nicht als Mensch, so doch als Seele, ist der Spiegel der Frage, ob die Gemeinschaft der Menschen zu retten wäre, es ist die Frage nach dem Opfer und seinem Sinn.
»Twin Peaks« ist letztendlich eher ein Gemälde als eine Narration. Die vielen Geschichten fügen sich zu keiner Metageschichte, aber zu einem Bild. Und die Elemente des Bildes lösen sich wiederum in Geschichten auf. Dieses Bild bezeichnet die Schönheit des Grauens ebenso wie das Grauen der Schönheit. Es ist so unlesbar wie präsent, mit Farben und Licht in den Exzess getrieben, wie bei Caravaggio. Jede Einstellung ließe sich einrahmen, und jede Einstellung scheint dazu gedacht, den Rahmen zu sprengen.
Es geht, um die »Log Lady« noch einmal abschließend zu zitieren, in »Twin Peaks« um die Geheimnisse des Lebens oder auch um die Geheimnisse des Todes. Das geht nicht ab, ohne dass das Tabu verletzt wird.
»Twin Peaks« ist ein kulturhistorischer Glücksfall. Die Menschen damals waren bereit für »Twin Peaks«, und das war keine Kleinigkeit. Es war der Beginn der neunziger Jahre, der Abschied vom letzten großen Aufbruch im Pop. »Twin Peaks« ist nicht zuletzt eine Darstellung von Jugend im Zustand ihrer Abschaffung.
Twin Peaks ist eine kleine Stadt umgeben von Wäldern. Und was da passiert, wird uns in den Vorspannbildern klar: die industrielle Vernichtung des Paradieses. Die holzverarbeitende Industrie schändet den Wald und weckt seine Dämonen. Aber in diesem Vorspann wird auch deutlich, dass Twin Peaks nichts anderes ist als ein (weiblicher) Körper. Das Rostbraun wird zur Leitfarbe; Maschine und Blut (auch das kennen wir aus Lynchs Arbeiten), das Holz und der Fluss. Das alles ist, komplett natürlich erst mit der Titelmelodie von Angelo Badalamenti, so ungeheuer suggestiv, dass es vielleicht für immer den Charakter von Serienvorspännen verändert hat.
»Twin Peaks« überfordert seine Zuschauer von den ersten Einstellungen an. Es bleibt nur eine nerdhafte Überinterpretation oder eine kultische Verehrung gegenüber der Fülle von Zitaten (oder vermeintlichen Zitaten), Anspielungen und Verweisen. Aber zugleich sind alle Figuren so übercodiert, so mit Macken und Eigenheiten behaftet wie in einem Comicstrip, dass man sie auch als reine Grand-Guignol-Oberflächen goutieren kann. Das funktioniert auch über einen Schauspielstil, den man nicht wirklich realistisch nennen kann. So sind, nur zum Beispiel, oft Aktion und Reaktion zueinander verzögert, der Selbstausdruck der Figuren nimmt stets wesentlich mehr Raum ein, als es für bloße »Handlung« notwendig wäre. Keine Figur versteht sich von selbst. Verwunderung ist die verbreitetste Haltung zueinander in »Twin Peaks«. Aber zur gleichen Zeit spürt man den Kontroll- und Konformitätszwang der Kleinstadt: Jeder kennt jeden, und keiner versteht den anderen. Fremdheit und Intimität stehen nebeneinander. Das Grauen steigt aus der Vertrautheit auf. So laufen nebeneinander: die schmutzigen Geschäfte der Herren und Herrinnen von Twin Peaks; der gefährliche Lebenshunger der Teenager; die emotionale Verstörung und Versteinerung der Mittelstandsfamilien; das seltsame Rauschen, das durch die Wälder geht; die Geschichte einer Geheimgesellschaft in den Grenzregionen zu Kanada, die »Black Lodge«, die möglicherweise einer Mythe der Native Americans entspricht; die Aktionen und Aussagen der Menschen am Rande; die Bemühungen einer kleinen Sheriff-Crew, einschließlich eines übersensiblen Deputys mit leichten Anklängen an Stan Laurel und einer eifrigen Sekretärin mit Erklärmanie; und natürlich Agent Cooper, der seine Erlebnisse, Überlegungen und Beobachtungen in Berichten an eine gewisse »Diane« formuliert. Zur Wirkung der Serie gehört es, dass jede Folge einen Tag an Erzählzeit umfasst. Es gibt Dinge, die in der Handlung weiterlaufen, und andere, die sich gleichsam nur für diesen einen Tag ereignen. Es ist der sonderbare Traum der Postmoderne: Alle Medien der Erzählung, das Subjekt, der Raum und die Zeit, werden selber zum Thema.
»Twin Peaks« mit den Augen von Agent Cooper zu sehen, das ist, wie gesagt, nur eine der Möglichkeiten, die seltsame Stadt mit ihren seltsamen Bewohnern in Betracht zu ziehen. Cooper selber ist eine der sonderbarsten Figuren. Ein Agent, der auf seine Träume hört und den Schuldigen vermittels Steinwürfen auf leere Flaschen zu ermitteln versucht. Einer, der eine kindliche Begeisterung nicht bloß für Kirschkuchen und verdammt guten Kaffee äußert, sondern auch für die ungeheure Anzahl von Bäumen in der Umgebung der Stadt. Ein Mann mit einem kindlichen Blick auf die Welt, der aber gerade dadurch in der Lage ist, manches von dem zu sehen, was den anderen verborgen bleiben muss. Oder einer, der am allerwenigsten »wirklich existiert«. Es ist ein Blick von außen, der zugleich auch besonders rücksichtslos sein kann. Nicht ganz von dieser Welt. Und nicht von ihr zu lösen.
Die Serienwelt sah nach »Twin Peaks« anders aus als vorher. Welchen Sinn also kann eine Wiederkehr von »Twin Peaks« machen, abgesehen von einem nun schon wieder nostalgischen Effekt und abgesehen davon, dass man lange genug auf eine neue Filmarbeit von David Lynch gewartet hat? In der dritten (wieder von David Lynch selbst inszenierten) Folge der ersten Staffel vom 19. April 1990 jedenfalls ist der Keim der dritten Staffel angelegt: Ein sichtlich gealterter Agent Cooper ist in einem Traum mit Laura Palmer und dem Kleinwüchsigen mit der sonderbaren Sprechweise konfrontiert. Sie sagt ihm, dass sie ihn in 25 Jahren wiedersehen werde. Und er, dass seine Lieblingssendung bald zurückkomme. Mit einer kleinen Verspätung werden nun diese Prophezeiungen erfüllt. Und wir sind, wie Agent Cooper, fest entschlossen, uns überraschen zu lassen.
Die neue Staffel »Twin Peaks« startet am 21. Mai auf dem US-Sender Showtime.
In Deutschland startet die Staffel ebenfalls am 21. Mai auf Sky (OV), ab 25. Mai auch in deutscher Synchronfassung
Kommentare
david lynch
das david lynch einer intoleranten sekte angehört scheint hier niemanden zu interessieren. der zweck heiligt die mittel ?, wo bleibt da die political correctness?
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