Zeichen setzen
Gegen Ende von Costa-Gavras' Verfilmung von »Der Stellvertreter« gibt es eine Szene, deren Pathos mich beim ersten Sehen enorm ergriffen hat und mir nachhaltig in Erinnerung geblieben ist. Der von Mathieu Kassovitz verkörperte Jesuitenpater Riccardo hat bis zu diesem Moment alles versucht, um die Weltöffentlichkeit über die Judenvernichtung aufzuklären. Nun sieht er seine Anstrengungen gescheitert: Der Papst ließ den Holocaust in seiner Weihnachtsansprache unerwähnt. Das Morden geht weiter.
Riccardo trifft eine einsame Entscheidung. Er heftet einen Davidstern an seine Soutane und folgt einer Gruppe verhafteter Juden in die Deportation. Weil er kein Retter mehr sein kann, sieht er keinen anderen Ausweg, als das Leid der Opfer zu teilen. Der Jesuit hebt alle Glaubensunterschiede auf. Ist es eine heroische oder eine anmaßende Geste? Mich berührt, wie entschlossen und klar Riccardo in diesem Moment der seiner Verzweiflung handelt. Kassovitz, der ihn gleichsam als einen Doppelagenten Gottes anlegt, spielt dieses Selbstopfer fast nüchtern. Er folgt einem humanistischen Impuls, der ihm nun selbstverständlich erscheint.
In diesen Tagen musste ich wegen einer Nachricht, die durch Berliner Zeitungen ging, an diesen Moment denken. Auch in ihr geht es um Davidsterne, Seelennot und Anmaßung; auch sie ist unfasslich. Ihr Hintergrund ist weit weniger dramatisch, an die entsetzliche Dimension des Holocaust reicht er nicht heran. Allerdings ist nicht ganz klar, ob ihrem Urheber dieser Unterschied bewusst ist. Timothy Grossman, der Geschäftsführer des Berliner Kinos Babylon, hat in der letzten Woche Davidsterne auf die Eingangstüren gemalt und über ihnen ein Plakat anbringen lassen, auf dem in alter Frakturschrift die Hetzparole "Deutsche! Wehrt euch! Kauft nicht im Babylon!" prangt.
Der Hintergrund dieser Provokation sind anscheinend langjährige Differenzen zwischen Geschäftsleitung und Angestellten. Seit Juli wird das Kino bestreikt. Mitarbeiter, die sich ausgebeutet fühlen, rufen zum Boykott auf. Für die Gewerkschaft Verdi dürfte es ein Novum sein, dass ein Arbeitskampf als antisemitisch gegeißelt wird. Um sich der Vorwürfe seiner Mitarbeiter zu erwehren, hat Grossman sich der Sprache der Täter bedient. Er sah keinen anderen Weg, als sich mit ihnen gemein zu machen, um endlich selbst als Opfer dazustehen. Er musste eine Fiktion errichten, Nachbesserungen an der Realität vornehmen.
In einer Pressemitteilung wird die bizarre Geste als "Kunstaktion" nobilitiert. Welche Freiheit oder auch Unbedenklichkeit soll ihr somit eingeräumt werden? Ihre Taktlosigkeit sehe ich dadurch nicht gedeckt; allzu frivol und narzisstisch erscheint sie mir. Man muss die Kunst gegen Grossman in Schutz nehmen.
Wie sehr sich die Geschäftsleitung des Kinos auf Publicity versteht, ist an dieser Stelle (siehe »Die Schlacht des Jahrhunderts« vom 19.6.) zwar bereits gewürdigt worden. Aber die Wirklichkeit übersteigt bisweilen die Phantasie noch eines jeden Journalisten. Diese Aktion und ihre Beweggründe scheinen eher in die Zuständigkeit von Arbeitsrechtlern, wenn nicht gar Psychiatern zu fallen. Da zum Beruf des Filmkritikers aber auch das Entziffern von Zeichen gehört, spüre ich doch eine gewisse Befugnis, sie zu kommentieren.
Bezeichnend an Grossmans Verzweiflungstat scheint mir, dass er sich vor allem als einen bedrohten Geschäftsmann darstellt. Darin immerhin beweist er Realitätssinn. Das von ihm geleitete Filmtheater gilt offiziell als das einzige Kommunale Kino Berlins, ist tatsächlich aber ein ziemlicher Gemischtwarenladen. Neben seinem Filmprogramm, in dem sich immer wieder überraschende Inseln der Originalität finden, bietet das Kino Lesungen, Konzerten und ähnlichem eine Bühne. Um es einmal ins Positive zu wenden: An Lebendigkeit fehlt es diesem Ort nicht, er fungiert mitunter als kulturelle Begegnungsstätte.
Grossman war von Anfang an Kritik ausgesetzt. Die Umstände, unter denen er das Traditionshaus übernahm, waren undurchsichtig. Erhielt er den Zuschlag dank alter Seilschaften, namentlich der Freundschaft zu dem damaligen, ziemlich glück- und talentlosen Kultursenator Thomas Flierl? Vielleicht schien sein Konzept der bunten Mischung aber zeitgemäßer als die ehrenvolle, etwas verschlafene Arbeit der vorherigen Betreiber. Wenn man an die schwierige, anspruchsvolle Arbeit denkt, die Kommunale Kinos andernorts leisten, kann einen die damalige Weichenstellung schon etwas traurig stimmen. Und nun ziemlich wütend.
Kommentare
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Tim Renner zur Grossman Aktion: "hochgradig geschmacklos" - "illigitim"
Konsequenzen?
Kommunales Kino Babylon
Also mir geht der ganze Kram ziemlich auf die Nerven. Die bekommen so viel Geld. Da müssen die kleine KInos ganz schön knausern.
Andererseits habe ich schon tolle Abende dort erlebt. Die Lage war ja schon im Osten super. Volxbühne gleich dazu ... was willste mehr.
Paar neue deutsche Filme gesehen, die super waren. Wo gibst die denn sonst. Und sogar paar feine Konzerte erlebt. Toller Kinoraum, schön altmodisch.
Der Hermann
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