Die Krise ist da, nur nicht zu sehen
Wenn in den kommenden Tagen Jungstars wie Robert Pattinson auf Idole wie Iggy Pop treffen und Hollywood-Adel wie Brad Pitt und Leonardo di Caprio sich vor europäischen Eminenzen wie Isabelle Huppert verneigt – dann weiß man, es ist Festival in Cannes. Am Dienstagabend geht es los mit der Premiere des neuen Films von Jim Jarmusch, »The Dead Don't Die«, in dem Adam Driver und Bill Murray zwei Provinzpolizisten spielen, die es mit Zombies zu tun kriegen. Es ist ein Eröffnungsfilm wie eigens gestrickt für das Filmfestival an der Cote d'Azur: besetzt mit einer Reihe kultiger Stars (Tilda Swinton, Chloe Sevigny, Steve Buscemi) und gedreht von einem geschätzten Indie-Auteur, der nicht nur »auf Kunst« macht, sondern auch mit einer Prise Humor aufwartet. Was soll da noch schief gehen? Nun, die Metapher mit den Zombies, den »Untoten« könnte auf das Festival zurückschlagen.
Dass zum Auftakt des Festivals, das sich als Zentralfeier des Autorenkinos darstellt, eben jenes für tot erklärt wird, gehört zur festen Tradition. Wie ein Phoenix aus der Asche wird es am Ende der zwölf Tage mit der Vergabe der Goldenen Palme dann wieder geboren, sei es in Gestalt eines Mehrfachgewinners wie Ken Loach oder eines bis dahin unbekannten Newcomers. Seit letztem Jahr jedoch wird bei diesem Ritual von Totsagen und Hochlebenlassen aber weniger das Autorenkino bestärkt als vielmehr das Cannes Festival selbst in Frage gestellt. Und auch wenn das Wettbewerbsprogramm sich liest wie eh und je, als durchdachte Mischung von Alt und Neu, Metropole und Provinz, Asien, Europa und Weltkino, so ist doch gleichzeitig in Wahrheit nichts mehr wie früher.
Das liegt zum einen daran, dass der Wettbewerb einmal mehr von den »Stammgästen« beherrscht wird, die einst als junge Wilde die Konventionen des Kinos aufsprengten, inzwischen aber Erwartbares abliefern. Der zweifache Goldene Palmengewinner Ken Loach ist mit 82 der älteste, er stellt mit »Sorry We Missed You« seine neueste Auflage britischer Sozialkritik vor. Auch die belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne gehören zum Zwei-Palmen-Club und werden in »Le jeune Ahmed«, in dem es um einen sich radikalisierenden Jugendlichen geht, nicht alles anders machen. Pedro Almodóvars neuer Film »Pain and Glory« mit Penelópe Cruz und Antonio Banderas ist gar in seinem Heimatland schon angelaufen – ohne Begeisterungsstürme ausgelöst zu haben. Ein anderer ehemaliger junger Wilder, der Amerikaner Terrence Malick (75) immerhin greift in seinem neuen Film »A Hidden Life« nicht nur ein für ihn fremdes Thema auf – es geht um den österreichischen Gewissensverweigerer Franz Jägerstätter, der 1943 von den Nazis hingerichtet wurde –, er soll auch mit seinem raunend-bedeutsamen Inszenierungsstil seiner letzten Filme gebrochen haben. In einem erlesenen Ensemble von europäischen Stars spielt August Diehl die Hauptrolle und mit Bruno Ganz und Michael Nyqvist sind gleich zwei inzwischen verstorbene Idole noch einmal zu sehen.
Die größte Aufmerksamkeit erregte im Vorfeld einmal mehr Quentin Tarantino und sein »Once Upon a Time in Hollywood«. Darin verkörpern Brad Pitt und Leonardo di Caprio ein Schauspieler-Stuntman-Duo im Hollywood der späten 60er Jahre, und die Manson-Bande spielt auch eine Rolle. Der Trailer lässt darauf schließen, dass Tarantino hier wie schon in »Inglourious Basterds« lustvoll Genre-Hommage mit alternativer Geschichtsschreibung verbindet. Und obwohl man von Tarantino noch weniger als von den anderen ehemals jungen Wilden etwas wirklich Neues erwartet, ist »Once Upon a Time in Hollywood« bereits jetzt der wichtigste Film im Programm. Ohne Brad Pitt, Leonardo DiCaprio und Margot Robbie wäre endgültig nicht mehr zu leugnen, dass es dem Festival an der Cote d'Azur zunehmend an großen Stars fehlt. Im Nebenprogramm tut man mit Tributen zu Alain Delon, Claude Lelouch, Werner Herzog und Silvester Stallone zwar alles mögliche, um genügend Prominenz für den Roten Teppich zu haben. Aber im Grunde ist Cannes in diesem Jahr wieder ein Festival mehr für die Sorte Filmprofis, die sich fragen, ob das kanadische Wunderkind Xavier Dolan mit seinem achten Film wohl endlich die Palme gewinnen könnte, oder ob eher Mati Diop, der ersten Regisseurin mit afrikanischen Wurzeln im Wettbewerb und wieder nur eine von vier Frauen unter 17 männlichen Regisseuren, das gelingen wird.
Die Filme, die in Cannes in diesem Jahr fehlen, lassen sich bezeichnenderweise exakt benennen: Es sind Steven Soderberghs »The Laundromat« und Martin Scorseses »The Irishman«, und dass beide nicht rechtzeitig fertig geworden sein sollen, kommt allen zu pass, die über den großen Zwist der Gegenwart zu Festivalzeiten nicht reden wollen. »Laundromat« und »Irishman« sind von Netflix finanzierte Produktionen, mithin nach Cannes-Reglement nicht wettbewerbsfähig. Wenn aber das Festival nicht bald löst, wie es die nicht zu übergehenden Produktionen der Streamingdienste integrieren kann, wird Cannes in der Tat bald Zombie-Status annehmen. Im übrigen wird es doch eine Netflix-Produktion an der Croisette zu sehen sein – in der Nebensektion der altehrwürdigen »Quinzaine des realisateurs«, in der der Regisseursverband und nicht die Kinoverwerter mitreden, wird »Wounds« laufen, ein Thriller mit Armie Hammer und Dakota Johnson.
Der Jury sitzt in diesem Jahr Alejandro González Iñárritu vor, ihr gehören außerdem die Schauspielerinnen Elle Fanning und Maimouna N'Diaye und die Regisseurinnen und Regisseure Alice Rohrwacher, Kelly Reichardt, Pawel Pawlikowski, Yorgos Lanthimos, Robin Campillo und Enki Bilal an. Das Festival beginnt am 14. Mai und endet am 25. Mai mit der Vergabe der Goldene Palme.
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