Cannes 2017: Gemischte Gefühle
Fotos mit Publikum zeigen in diesem Jahr in Cannes wieder und wieder den gleichen Anblick: Zwischen begeisterten Zuschauern sitzen immer auch welche mit unzufriedenen Gesichtern. So auch die Reaktion auf Fatih Akins neuem Film »Aus dem Nichts«: Während die einen mitgerissen vom Drama über einen ausländerfeindlichen Anschlag und das Verlangen nach Gerechtigkeit Hauptdarstellerin Diane Krüger zur Palmenfavoritin erklären, bekunden andere über Twitter ihre offene Enttäuschung.
Die Geschichte von »Aus dem Nichts« für das Akin zusammen mit Hark Bohm das Drehbuch verfasst hat, ist angelegt als fiktive Variante der ausländerfeindlichen NSU-Morde. In ihrem ersten deutschsprachigen Film spielt das ehemalige Model Diane Krüger eine Frau namens Katja, die mit Nuri (Numan Acar), einem Mann »mit Migrationshintergrund«, verheiratet ist und ein Kind mit ihm hat. Als eine Nagelbombe vor Nuris Übersetzer-Büro hochgeht, kommen Mann und Kind ums Leben. Wie am realhistorischen Beispiel der NSU-Affäre ermittelt die Polizei erst in die falsche Richtung und unterstellt den Opfern kriminelle Verwicklungen aller Art. Während Katja mit ihrem Schmerz- und Verlustgefühlen kämpft, wird schließlich ein junges Paar aus einem Neo-Nazi-Umfeld durch Beweise belastet und angeklagt. Verzweifelt hofft Katja darauf, dass eine Verurteilung ihr Genugtuung verschafft.
Fatih Akin kehrt mit »Aus dem Nichts« zur packend-emotionalen Filmsprache seiner frühen Werke wie »Gegen die Wand« zurück und setzt die Gefühle seiner Hauptfigur über die Details der Ermittlungs- und Gerichtsprozedur. Was er an trockenem Realismus dadurch einbüßt, macht Krüger mit einem konzentrierten und uneitlen Auftritt wett. In ähnlicher Weise hält sich der Film mit Thriller-Elementen zurück, um stattdessen die Empathie des Zuschauers zu erreichen – eine Herangehensweise, die mehr als gerechtfertigt erscheint angesichts des jahrelangen Mangels an Empathie in der deutschen Gesellschaft mit den von dem NSU Ermordeten und ihren Angehörigen.
Im Übrigen ist Akins Film einer der letzten Beiträge in einem Cannes-Wettbewerb voller zwiespältig aufgenommener Filme. Was nicht unbedingt für einen schwachen Jahrgang spricht, sondern lediglich zeigt, dass es den einen, großen Favoritenfilm wie zum Beispiel 2016 Maren Ades »Toni Erdmann«, über den sich alle einig waren, diesmal nicht gibt.
Am nächsten einem Publikums- und Kritikerliebling kommt noch der französische »120 battements par minute« von Robin Campillo, der eine Aktivistengruppe im Paris der 90er Jahre bei ihrem Kampf um Anti-Aidsforschung, Aufklärung und Betreuung zeigt. Aber es könnte auch gut nur auf einen Preis für Hauptdarsteller Nahuel Pérez Biscayart hinauslaufen. Ähnliches gilt für den Film »Loveless«, in dem Regisseur Andrey Zvyagintsev die Lieblosigkeit der modernen russischen Gesellschaft bloßlegt. Auch hier werden die Hauptdarsteller für Preise gehandelt, während der Film selbst vielen zu kalt erscheint.
Hochgelobt wurden auch Colin Farrell und Nicole Kidman, die in gleich zwei Filmen zusammen die Bandbreite ihres Könnens zeigen durften: In »The Killing of the Sacred Deer« des Griechen Yorgos Lanthimos und in Sofia Coppolas »The Beguiled« bestechen beide durch starke Schauspielerauftritte. Es erscheint aber auch möglich, dass die Filme für Regie- oder den Jurypreis infrage kommen. Und nach wie vor nicht ausgeschlossen wird die kleine Sensation, dass Michael Haneke mit »Happy End« der erste Regisseur der Festivalgeschichte werden könnte, der zum dritten Mal eine Goldene Palme in den Händen hält.
Eine Genugtuung gab es unterdessen bereits für Meisterregisseur David Lynch, der mit »Wild at Heart« 1990 hier die Goldene Palme gewann. Im Anschluss an die feierliche Aufführung der ersten zwei Folgen seiner neu aufgelegten Serie »Twin Peaks« – da die Premiere im Fernsehen Tage zuvor erfolgte, war die Vorstellung nicht ganz exklusiv – gab es die bislang längste stehende Ovation des Festivals. Lynch, der mit seinem »Twin Peaks«-Film »Fire Walk with Me« 1992 hier noch ausgebuht worden war, hatte Tränen in den Augen.
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