Die Empörung blieb aus
Vieles ist anders auf dieser Berlinale, der 70. in der Gesamtzählung und der ersten unter der neuen Doppelspitze von Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek. Aber einiges ist doch – über das notorisch schlechte Februarwetter hinaus – vertraut geblieben. Zum Beispiel die Tatsache, dass »Skandalfilme« auf der Berlinale sich oft als eher unbedeutende Aufregungen entpuppen. So geschehen mit dem russischen Wettbewerbsbeitrag »DAU. Natascha«: Im eigenen Land wegen Pornografieverdachts vorläufig aus dem Verkehr gezogen, und hervorgegangen aus einem Kunstprojekt, das in Berlin seinerzeit nicht genehmigt wurde, galt der Film des Regisseurs Ilya Khrzhanovskiy bereits als umstritten, bevor ihn noch jemand gesehen hatte. Nach der Aufführung gingen die Meinungen über das Werk, das Laienspiel, Stalinismus, Sex und Folter zusammenbringen will, zwar weit auseinander – aber die echte Empörung blieb aus.
Das könnte auch als Bilanz unter dieser Berlinale stehen: Die Empörung blieb aus. Damit hebt sich, und das ist anders als in den vielen Jahren unter der Leitung von Dieter Kosslick, das Festival entschieden ab vom restlichen öffentlichen Geschehen, in dem Empörung die Währung der Stunde ist. Die Ausrichtung nach politischen Themen, für die das Berliner Filmfestival genauso oft gelobt wie beschimpft wurde, hat die neue Leitung nicht ganz abgeschafft, aber doch anders gedeutet. Was dazu führte, dass in diesem Jahr einmal die einzelnen Filme im Vordergrund standen und weniger das Elend der Welt, das sie in den Blick nehmen. Denn natürlich dominierten wie immer die deprimierenden Themen wie heimliche Abtreibungen, miese Existenzen, Flüchtlingsschicksale, digitale Überforderung und Einsamkeit. Aber sie kamen in vielen originellen Filmen mit ganz eigenen Handschriften daher – und in erstaunlich vielen Filmen durfte sogar gelacht werden.
Einer der Lieblinge des Festivals war Kelly Reichardts Anti-Western »First Cow«, in dem die zwei Männer, die hier das Kuchenbacken in den Wilden Westen tragen, nicht nur Mitgefühl, sondern auch Schmunzeln hervorriefen. Mit dem Beziehungsdrama »The Women Who Ran« von dem Südkoreaner Hong Sang-soo und der Digitalisierungs-Ära-Satire »Delete History« von den Franzosen Benoît Delépine und Gustave Kervern liefen im Grunde sogar zwei echte Komödien im Wettbewerb. Wenn auch natürlich solche mit Anspruch: Lachen im Arthouse-Kino verfolgt schließlich immer einen Zweck.
Dem standen mit Filmen wie dem kolonialismuskritischen »All the Dead Ones« von den Brasilianern Caetano Gotardo und Marco Dutra und nicht zuletzt dem deutschen »Berlin Alexanderplatz« von Burhan Qurbani gewichtige, ernste Werke entgegen, die sogar ein gewisses Pathos nicht scheuten. Es war nicht immer ein bequemes Kino – »Berlin Alexanderplatz« dauert drei Stunden -, aber es war mit jedem Film aufs Neue spannend. Ein ums andere Mal bekam der Zuschauer mehr als angekündigt: In der italienische Vorstadt-Groteske »Favolacce« etwa bricht sich die Vulgarität mit einem ausgesprochen intellektuell verfremdeten Erzählstil; in Christian Petzolds »Undine« wird das Märchen von der Meerjungfrau nicht nur auf moderne Zeiten übertragen, sondern auch noch mit einem Diskurs über Berliner Stadtgeschichte und Stadtplanung verschränkt.
Was also sind die Favoriten bei der Bärenvergabe am Samstagabend? Als sicher gilt, dass die Jury unter Jeremy Irons Kelly Reichardts Publikumsliebling »First Cow« irgendwie bedenken wird, aber ob es zum Goldenen Bären reicht? Hoch in der Gunst steht auch der stille, absichtsvoll karg gehaltene amerikanische Independent-Film »Never Rarely Sometimes Always« von Eliza Hittman, in dem eine 17-Jährige aus Pennsylvania nach New York reist, um heimlich abzutreiben.
Während »Berlin Alexanderplatz« vom Publikum vor Ort gefeiert wurde, zeigte die internationale Kritik weniger Verständnis für Qurbanis hochatmosphärische, ambitionierte, aber darin auch anstrengende Literaturadaption. Sowohl der Darsteller des neuen, migrantischen Franz Biberkopfs Welket Bungué, als auch Albrecht Schuch, der seinen Gegenspieler Reinhold als absolut fesselnden Soziopathen gibt, kämen für einen Preis in Frage. Ihre größte Konkurrenz heißt Elio Germano als verkannter naiver Maler im italienischen »Hidden Away«.
Bei den weiblichen Darstellerinnen sieht es schon komplizierter aus: Paula Beer brilliert in der Titelrolle von »Undine«, Nina Hoss dito im Schweizer »Schwesterlein«, aber Sidney Flanigan als verstockter Teenager in »Never Rarely Sometimes Always« könnte ihnen gut den Rang ablaufen.
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