Der deutsche Traum
Rote Signallampen zucken über das dunkle Meer. Alles ist rot, der Himmel, das Wasser, eine schemenhafte Atmosphäre. Francis versucht seine Freundin Ida zu retten, doch es gelingt ihm nicht. Immer wieder tauchen Bilder der im roten Wasser versinkenden Ida in dem dreistündigen Film von Burhan Qurbani auf, der mit Spannung erwartet wurde in diesem seltsamen, oftmals sehr cinephilen Berlinale-Wettbewerb. Qurbani hat den Großstadt-Roman von Alfred Döblin neu adaptiert, ein mutiges Unterfangen angesichts der großen Fußstapfen eines Rainer Werner Fassbinders, der den Roman als 15-stündige Fernsehserie 1979/80 verfilmte – damals hochgelobt.
Aber werkgetreu will diese Neuverfilmung, dessen Drehbuch der deutsch-afghanische Regisseur zusammen mit dem Autor Martin Behnke schrieb, gar nicht sein. Mutig haben die beiden die Geschichte in das Berlin von heute verlegt und sich an den wesentlichen Figuren und Motiven des Romans orientiert. Ida zum Beispiel ist auch im Roman der Auslöser für den Vorsatz des Helden, fortan gut sein zu wollen. Was ihm, wie wir wissen, nicht gelingt.
Francis, den dunkelhäutigen Flüchtling aus Bissau, verschlägt es nach Berlin, zuerst versucht er sich als Bauarbeiter, ist aber als Illegaler vor seinem Rauswurf nicht sicher. In seiner Unterkunft requiriert Reinhold für seine Geschäfte Straßendealer, die für ihn in der nach einem ausgeklügelten System Drogen im Park Hasenheide verticken. Zwar weigert sich Francis, bei den Drogengeschäften mitzumachen, doch er kocht für die Dealer.
Und irgendwann steigt er ins Geschäft ein, das eigentlich dem Gangster Pums gehört. Das ist eine der größten Szenen des visuell hochkarätigen Films, wenn er vor den anderen Illegalen steht und sagt, dass er teure Kleidung trägt, ein deutsches Auto fährt und eine deutsche Frau habe: »Ich bin der deutsche Traum!« Francis, der sich jetzt Franz nennt, denkt auch nicht um, als er seinen Arm verliert, sondern erst, als er Mieze kennenlernt, seine große Liebe, ein Callgirl, die von ihm schwanger wird.
Der neue »Berlin Alexanderplatz« hat nichts mehr von der Gestelztheit und Bedeutungsschwere von Fassbinders Opus Magnum. Es ist ein atemberaubender, mitunter surreal wirkender Trip durch die Unterwelt Berlins, ein Gangsterepos, das getragen wird von seinen hervorragenden Hauptdarstellern. Der guineisch-portugiesische Schauspieler Welket Bungué gibt den Francis, der später mit Sekt in Franz umgetauft wird, viel zupackender als seinerzeit Gunter Lamprecht. Ihm steht der von Albrecht Schuch mit vielen Ticks verkörperte Reinhold gegenüber, ein Psychopath und Misanthrop – und eine verhängnisvolle Beziehung. Und Jella Haase als Mieze hat endlich mal wieder eine vielschichtige Rolle nach ihren Komödienerfolgen.
Eine solche Wucht wie »Berlin Alexanderplatz« hatte bislang noch kein Film im Wettbewerb. Ob ihm das am Ende bei der Preisverleihung am Samstag nützt, bleibt abzuwarten. Die Tendenz in den vergangenen Tagen ging ja in die Richtung der kleinen, eher intimen Filme. Etwa der südkoreanische Beitrag »Die Frau, die rannte« von Hong Sangsoo, in der eine Frau nach mehreren Jahren Ehe erstmals wieder ihre Freundinnen besucht. Gefilmt in statischen Einstellungen, in denen nur ein Zoom die Personen heranholt, überzeugt der leise Film durch einen mitunter unerwarteten Witz in den Dialogen.
Beeindruckend war auch »Never Rarely Sometimes Always« (Niemals Selten Manchmal Immer) der US-Filmemacherin Eliza Hittman. Der Titel ist den Optionen eines Fragebogens entlehnt, den eine New Yorker Abtreibungsklinik immer mit ihren Patientinnen durchgeht. Denn da sucht eine ungewollt schwangere 17-Jährige aus der Provinz mit ihrer Cousine Zuflucht. Hittman beschreibt in ihrem fast dokumentarisch und mit pixeligen Bildern (Kamera: Hélène Louvart) aufgenommenen Film die Odyssee der beiden Mädchen durch die kalte Großstadt in einem verhaltenen, undramatischen Tonfall.
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