Kopfüber in die Nacht
Die Lichter zucken, die Musik wummert. Am frühen Morgen, vielleicht so um halb fünf, tanzt eine junge Frau in einem Berliner Club, etwas verloren, versucht, den Barkeeper in ein Gespräch zu verwickeln. Als sie die Treppen nach oben geht, trifft sie auf vier Jungs, ohne Geld, die nicht in den Club hineingekommen sind, und ein aberwitziger Trip durch den frühen Morgen beginnt. Das ist der Anfang von Sebastian Schippers »Victoria«. Einen Club gibt es auch in Andreas Dresens »Als wir träumten«: Der heißt allerdings "Eastside" und liegt im Osten, im Leipzig nach der Wende. Es ist so etwas wie der Traum von fünf Jungs, die noch zur Schule gehen und sich der Realität von Glatzen und Drogen stellen müssen.
Die beiden deutschen Filme laufen im Wettbewerb der Berlinale, die einzigen deutschen Beiträge, die um den Goldenen Bären konkurrieren. Sie haben viel gemein, junge Leute als Hauptfiguren, eine fiebrige Erzählweise, und sind doch ganz anders. Andreas Dresen, dessen Karriere mit »Nachtgestalten« vor mehr als zwei Jahrzehnten auch im Wettbewerb der Berlinale begann, hat den Wende-Roman von Clemens Meyer verfilmt. Der hat sogar einen kleinen Auftritt als Polizist. Wer die letzten Filme von Dresen gesehen hat, »Wolke 9« etwa oder »Halt auf freier Strecke«, die eher ruhig und nah von ihren Figuren erzählten, wird erstaunt sein von der Wucht und der Ekstase dieses Films, dessen Drehbuch wieder einmal – der 83jährige - Wolfgang Kohlhaase geschrieben hat. Zu Beginn trifft Dani (Merlin Rose) seinen Freund Mark (Joel Basman) in einem geschlossenen Kino. Mark ist schwer auf Drogen und vollkommen fertig. Der Traum ist aus, und lange hat er eh nicht gehalten.
»Als wir träumten« ist kein Film über die Wende-Verlierer, er handelt von einer Zeit des Vakuums, die für die fünf Jungs aus Danis Clique auch Jahre der Freiheit bedeuten. Sie testen aus, was sie können, Drogen, Ladendiebstahl, zerdeppern wie im Rausch parkende Autos. Dani verliebt sich in Sternchen, aber das wird genauso wenig wie die Boxerkarriere von Rico. Die Rückblenden in die DDR-Vergangenheit, etwa zu einer Wehrübung, sind bonbonbunt, aber überhaupt nicht verklärend, so skurril wie Kriegsspielen mit Kindern, die ihre Verletzungen auf Tafeln umgehängt bekommen, eben ist. Du hast keine Chance, aber nutze sie: Am Ende sind die Verhältnisse stärker als die fünf Jungs, sie kommen nicht gegen die Glatzen an, nicht gegen die Drogen, die sie verkaufen, Mark stirbt, Rico muss für länger in den Bau, und Sternchen arbeitet in einem Stripclub.
Auch in Sebastian Schippers Film wird die Reise durch den frühen Morgen am Ende zu einem Alptraum. Victoria, die titelgebende junge Frau aus Spanien (Laia Costa), freundet sich mit den Jungs an, die den Geburtstag ihres Kumpels feiern wollen und schon ziemlich angeschickert sind. Diese erste Stunde, in der Englisch geradebrecht wird, was das Zeug hält, und in der die fünf um die Blöcke und auf die Dächer gehen, ist die schönste des Films. Aber dann schlagen auch hier die Verhältnisse gnadenlos zu: Einer der Jungs muss eine Schuld aus dem Gefängnis abgleichen, und so tauchen die fünf in den Wahnsinn eines Bankraubs ein. Sebastian Schipper hat seinen Film in einer einzigen Einstellung gedreht. Ohne Schnitt und weitgehend improvisiert. 140 Minuten lang folgt die Kamera ohne Unterbrechung ihren Figuren durch die erwachende Stadt, eine logistische Meisterleistung, vor allem, wenn der Film in der letzten Dreiviertelstunde seine Figuren auf der Flucht zeigt. Obwohl der Film am Ende ausufert: Chancen auf einen Bären, für den Film, aber auch für die großartige Hauptdarstellerin Laia Costa, sind ihm sicher.
Mit der Atemlosigkeit der Filme von Dresen und Schipper kann »Everything will be fine« nicht konkurrieren. Der neue Film von Wim Wenders, wie der am Donnerstag laufende »Elser« von Oliver Hirschbiegel außer Konkurrenz gezeigt, kommt eher bedächtig daher, schließlich geht es um Tod und Schuld. Der amerikanische Schauspieler James Franco spielt in dem in Kanada gedrehten Film einen Schriftsteller, der im Winter ein Kind überfährt. Wenders verfolgt über mehr als ein Jahrzehnt die Lebenswege der Beteiligten, führt sie immer wieder zusammen, zeigt, wie sie mit dem Tod umgehen. Wenders hat seinen neuen Film, wie schon die Doku »Pina«, in 3D gedreht – ungewöhnlich für ein stilles Familiendrama, für einen Film ohne große Schauwerte. Aber er nutzt die Plastizität des Formats unaufdringlich und geschickt, um Nähe und Emotion zu seinen Figuren herzustellen.
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