Frischer Blick auf das Vertraute

Anders als die Retrospektive, die besser eines hätte, kommen die Berlinale Classics ohne Konzept aus. Für die Zusammenstellung der kleinen Reihe braucht es eigentlich nur einen Überblick der aktuellen Restaurierungen weltweit, dazu Geschmack sowie ein scharfes Auge und waches Ohr.

Gut vernetzt sollte man als Veranstalter natürlich auch sein, und ein guter Gleichgewichtssinn kann nicht schaden. Eine ganze Menge Anforderungen, wenn man es recht bedenkt. Viele Programmplätze gibt es ja nicht viele zu füllen. Acht Titel umfasst die Sektion in diesem Jahr, die zum neuen Blick auf Bekanntes einlädt; gleichviel, ob es der erste, zweite, dritte ist. Interessanter ist natürlich der auf Unbekanntes. Aber vielleicht sieht man „Dirty Harry“ nach der 8-K-Restaurierung ja tatsächlich anders. Ein Titel, der mich im Programm überrascht hat, ist „The Paradine Case“ (15., 21. und 22. 2). Hier stellt der Sektionsname bereits eine Rehabilitierung dar, denn bei ihm handelt es sich um einen tendenziell ungeliebten Hitchcock-Film; erst recht vom Regisseur selbst. Besonders neugierig wurde ich, weil mich die Ankündigung hoffen ließ, die ursprüngliche Fassung des Gerichtsfilms sehen zu können, die angeblich 20 Minuten länger sein soll. Da hatte ich aber nicht genau genug hingeschaut. Tatsächlich läuft er in der bekannten Länge von 115 Minuten.

Kurioserweise ist das der einzige der bekannteren Hitchcockfilme, den ich bis vor einigen Monaten nie vollständig gesehen habe. An Gelegenheit hätte es nicht gemangelt, er lief schließlich oft genug im Fernsehen. Meinen ersten richtigen Blick auf ihn verdanke ich meinem Freund Binh, der eine Blu-ray-Box doppelt hatte, in der Hitch' vier Filme gesammelt sind, die er mit dem Produzenten David O. Selznick gedreht hat. „Der Fall Paradine“ war 1947 der Schwanengesang ihrer Zusammenarbeit, die sieben Jahre zuvor mit „Rebecca“ hoffnungsvoll begonnen hatte. Es kam nicht zu einem wirklich dramatischen Zerwürfnis, aber der Produzent war ungehalten über Hitchcocks Drehtempo (insbesondere bei den Gerichtsszenen im Old Bailey) und unzufrieden mit dessen erster Schnittfassung, die drei Stunden dauerte. Diese kürzte er zuerst auf 131 Minuten und nach dem eher schleppenden Kinostart noch einmal auf besagte 115, die im Übrigen vollauf genügen.

Selznick hatte die Romanvorlage von Robert Hitchens bereits 1933 verfilmen wollen, auch zwei weitere Anläufe scheiterten in der ersten Hälfte der 1940er an der Zensur. Weshalb diese Einspruch erhob, verrate ich lieber nicht, denn da würde es sich um Spoiler handeln. „Der Fall Paradine“ hätte zu einer der typisch aufgeblasenen Selznick-Produktionen werden können, die auf transatlantisches Prestige schielten: die kostspielige Adaption (mit einem Budget von knapp dreieinhalb Millionen fast so teuer wie „Vom Wunde verweht) einer „gewichtige“ britischen Vorlage, angesiedelt in einem ebenso ehrfurchtgebietenden Milieu (dem britischen Klassensystem), kulminierend in einem sensationellen Gerichtsprozess, bei dem die britische Sittlichkeit auf den Prüfstand gerät. So kam es auch weitgehend. Selnick investierte nicht nur viel Geld, sondern brachte sich als Drehbuchautor ein, dem die Parallelen zwischen der Dreiecksgeschichte des Stoffes und seiner privaten Lebenssituation – er stand zwischen seiner Ehefrau Irene und seiner Neuentdeckung Jennifer Jones – gewiss klar waren. Der Produzent als auteur?

Nun, Hitch gelang es dennoch, in dieser Gemengelage „seinen“ Film zu drehen, zumindest in tragenden ästhetischen und thematischen Ansätzen. Ein ungewöhnlicher Hitchcock ist es gleichwohl, da er keinen Suspense einbauen konnte – abgesehen von der genrebedingten Spannung, ob es dem Verteidiger Gregory Peck gelingen wird, einen Freispruch für seine Mandantin Alida Valli zu erwirken. Bekanntlich war Hitch mit der Besetzung unglücklich. Peck als Anwalt, der zur britischen Oberschicht gehört? Da hätte Laurence Olivier besser gepasst. (Auf ein ähnliches Glaubwürdigkeitsproblem wird .das Classics-Publikum mit Jean Harlow in „Hell's Angels“ stoßen.) Auch Louis Jourdan missfiel ihm in der Rolle des möglichen Liebhabers von Mrs. Paradine, da hätte er sich einen offensichtlicheren Klassengegensatz gewünscht. Da irrte sich der Regisseur allerdings gewaltig, denn Jourdan ist exzellent.

Die Restaurierung wurde von Scorseses „Film Foundation“ unterstützt (auch Spielberg wird gedankt), was mich annehmen lässt, dass er im „Paradine Case“ maßgebliche Indizien für Hitchcocks Handschrift entdeckte. Als Konservator geht es ihm ja stets auch um eine Verherrlichung inszenatorischer Meisterstücke. Die finden sich zuhauf im Film. Etwa den Abgang Charles Coburns, der als Familienanwalt der Paradines die Angeklagte im Gefängnis besucht und dann einen Tunnel von wechselndem Licht und Dunkel durchschreitet, der mit dem Zuschlagen der Zellentür schicksalhaft endet. Oder die Kamerafahrt, die offensiv Charles Laughtons geilem Blick auf die Schultern von Pecks Ehefrau (Ann Tod) folgt. In den Gerichtssezenen läuft Hitch zu Hochform auf, nach knapp einer Stunde kommt eine ganz neue Dynamik in den Film. Der Realschauplatz Old Bailey trägt übrigens noch Spuren des Blitzkriegs, ein Seitenflügel des stattlichen Gebäudes liegt noch in Ruinen. Das pièce de résistance des Films ist die lange Kamerafahrt, in der Jourdan den Gerichtssaal betritt und zum Zeugenstand geht. Die Einstellung ist komplett auf Vallis Gesicht und ihre Reaktion fokussiert. Nach seiner Aussage wiederholt Hitch dieses Kabinettstück noch einmal, unter veränderten Vorzeichen.

Die langen Plansequenzen, die bereits Hitchcocks Experimente in „Cocktail für eine Leiche“ und „Sklavin des Herzens“ ankündigen, werden Scorsese bestimmt im Besonderen imponiert haben. Mich faszinierte, wie seine Inszenierung mit der Erzählperspektive und deren Wechsel arbeitet. Die Verhaftung von Mrs. Paradine ist während der Exposition komplett aus deren Blickwinkel gedreht - nicht in subjektiven Einstellungen, das wäre zu offensichtlich, sondern in emphatischer Konzentration auf Valli. Zum Auftakt von „Der falsche Mann“ ist es nicht mehr weit. Das Kindheitstrauma der grundlosen Verhaftung auf Geheiß seines Vaters, von dem der Regisseur gern berichtete, hat man unweigerlich im Kopf. Zwischendrin schwenkt die Perspektive zu Peck über, der sich in den Fall einarbeitet. Aber zu Beginn der Verhandlung kehrt die Regie glorreich zu Vallis Erleben zurück. Großartig, wie sie schweigend die Treppe empor schreitet, dann den einschüchternden Gerichtssaal Saal betritt, um schließlich auf der Anklagebank Platz zu nehmen. Ziemlich stolz wies Hitchcock später Truffaut darauf hin, dass er den gesamten Saal erst am Ende der Verhandlung zeigt und in einer atemraubenden Aufsicht zeigt, wie der gebrochene Peck ihn verlässt. Die Totale muss man sich aufsparen, so lange es nur geht, schwärmt der Meister gegenüber seinem gelehrigen Schüler, man darf sie nicht expositorisch einsetzen, sondern zu dramatischen Zwecken. Fürwahr, in seinen besten Momenten ist „The Paradine Case“ pures Kino,

 

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